Eigentlich wollte sich Lars Heemeier mit seinen Klienten in ein Hotel in Essen einmieten. Einfach mal raus aus dem beruflichen Alltag, ohne störende Anrufe und vollgestopfte Terminkalender. Das Thema: Mitarbeiterführung und Kritikgespräche. Die Teilnehmer: Acht junge Manager verschiedener Energieversorger, zwei Tage mit Workshops und Einzelcoachings. Und dann kam Corona. „Jetzt steht alles still", sagt der 48-Jährige. „Und realistisch gesehen wird das noch länger so bleiben."
Heemeier ist freiberuflicher Business-Coach. Seit Jahren unterstützt der Hamburger Führungskräfte aus verschiedenen Branchen bei der beruflichen Weiterentwicklung, schult sie im Umgang mit Mitarbeitern, entwickelt gemeinsam mit ihnen Strategien zum Lösen von Problemen und Konflikten. Gerade jetzt ist der Beratungsbedarf groß: Wie führt man eigentlich Mitarbeiter im Homeoffice? Welche Vertriebsstrategien funktionieren trotz Physical Distancing?
Trotzdem ist Heemeiers Geschäft eingebrochen. Der Workshop im Hotel? Aufgrund der Kontaktbeschränkungen gestrichten. Das geplante Einzelcoaching in München? Abgesagt wegen des Lockdowns. Statt des Booms kam die Bruchlandung.
Das beobachtet auch Paul Fortmeier. Er ist Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv), in der mehr als 4200 professionelle Coaches organisiert sind. „Bei vielen Kollegen sind 100 Prozent der Aufträge weggefallen, vor allem bei denjenigen, die auf besonders von der Krise betroffene Branchen spezialisiert sind", sagt Fortmeier, der selbst seit mehr als 30 Jahren als Coach arbeitet. Eine Krise wie gerade hat auch er noch nicht erlebt.
Homeoffice, Kurzarbeit, Auftragsflaute: Gerade jetzt lohne es sich für Unternehmer, professionelle Coaches zur Hilfe zu holen, sagt Siegfried Greif, Geschäftsführer für die Bereiche Coaching und Unternehmensberatung am Institut für wirtschaftspsychologische Forschung und Beratung in Osnabrück. „Wenn Sie die Mitarbeiter in dieser Situation nicht mitnehmen, wird es ganz problematisch."
Denn in Krisen, sagt Greif, komme es vor allem auf die richtige Kommunikation an. Doch die ist aktuell durch die räumliche Distanz erschwert, viele Mitarbeiter fühlen sich verunsichert oder allein gelassen. Da sind die Führungskräfte gefordert. Doch diejenigen, die ihnen das nötige Rüstzeug mitgeben könnten, sitzen gerade ebenso allein daheim.
Die von der Pandemie ausgelöste Rezession verschärft das Problem: Viele Firmen wissen nicht, wie groß das Loch sein wird, das die Krise in die Kassen reißt. Seminare und Schulungen gehören da oft zu den Posten, die aus Kostengründen zuerst gestrichen werden. Nicht ohne Grund haben viele selbstständige Coaches staatliche Soforthilfen beantragt.
Um trotz der bestehenden Kontaktbeschränkungen weiter arbeiten zu können, haben die meisten Trainer in den vergangenen Wochen digitale Angebote aus dem Boden gestampft - vom Coachingvideo bis hin zum Gruppenseminar per Konferenzschaltung. „Digital funktioniert viel mehr, als wir bisher dachten", sagt Fortmeier.
Vor Corona war die Szene gegenüber digitalen Werkzeugen eher skeptisch. Bis vor wenigen Monaten habe nur ein knappes Drittel der DGSv-Mitglieder Videochats oder ähnliche Formate genutzt, schätzt der Verbandschef. Vielen habe die nonverbale Kommunikationsebene gefehlt, andere fühlten sich unsicher, was die eigene technologische Kompetenz angeht.
„Das Verhältnis hat sich vollkommen umgekehrt", sagt Fortmeier. Jetzt beschäftige sich die deutliche Mehrheit der Trainer mit digitalen Tools. Die Krise, sie wird zur Lehrstunde für die Lehrmeister.
Auch auf der Kundenseite nähmen die Berührungsängste ab, beobachtet der Verbandschef. Er ist sich sicher, dass die Digitalisierung die Arbeit der Coaches dauerhaft verändern wird - auch wenn Kontaktsperre und Maskenpflicht längst passé sind.
Von diesem Trend profitiert Yannis Niebelschütz schon heute. Vor zwei Jahren gründete der 37-Jährige zusammen mit seinem Bruder Matti in Berlin die Plattform Coachhub, die Führungskräftetrainings per App anbietet. 120 Beschäftigte arbeiten direkt für die Firma, mehr als 600 Coaches aus 42 Ländern lassen sich über die Plattform vermitteln, perspektivisch sollen es deutlich mehr werden.
Ein Algorithmus hilft den Klienten, den für sie passenden Trainer zu finden, anschließend gibt es Videosessions, Aufgaben per App und einen Überblick über die gemachten Fortschritte. In drei Finanzierungsrunden haben die Niebelschütz-Brüder insgesamt 19 Millionen Euro bei Investoren für ihr Projekt eingesammelt.
Zielgruppe sind laut Yannis Niebelschütz vor allem Konzerne und große Mittelständler. „Wir sehen, dass es jetzt auch bei eher behäbigen Firmen plötzlich ganz schnell geht. Die Unternehmen merken, dass sie ihre Leute unterstützen müssen." Und das gehe während der Pandemie eben am besten digital.
Die Krise werde dem Coaching per App auch langfristig einen kräftigen Schub geben, ist der Start-up-Unternehmer überzeugt. Denn durch die Erfahrungen aus der Coronazeit dürften auch den hartnäckigsten Bedenkenträgern die Argumente ausgehen. Wer würde noch bezweifeln, dass digitales Coaching funktioniert, wenn die Kommunikation ganzer Firmen monatelang über Videodienste wie Skype und Zoom gelaufen ist?
Natürlich funktionieren in der virtuellen Welt manche Dinge anders als in der realen. So hat Business-Coach Heemeier einige seiner Sessions im Vergleich zur analogen Variante verkürzt, weil am Bildschirm die Konzentration der Teilnehmer schneller sinkt. „Außerdem kann man die Leute nicht mehr wirklich etwas erleben lassen." Einzelne Formate müssten daher angepasst werden.
Viele Coaches rücken visuelle Inhalte stärker in den Vordergrund, Texte gewinnen an Gewicht. Gleichzeitig würden viele Übungen interaktiver, sagt Coachhub-Gründer Niebelschütz. „Man braucht mehr als nur eine Plattform, die Coach und Kunden für einen Videoanruf zusammenbringt."
Verbandsgeschäftsführer Fortmeier ist weniger euphorisch, was die digitale Revolution beim Coaching angeht: „Es lässt sich einfach nicht alles eins zu eins übertragen. Das zu denken wäre naiv." Er glaubt nicht, dass sich eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Coach und Klient allein über den Bildschirm aufbauen lässt.
Auch technische Probleme, langsame Internetverbindungen und schlechte Tonqualität könnten jede Videokonferenz zur Nervenprobe machen. Gerade Gruppenseminare ließen sich per Videochat nur schwer umsetzen, findet Fortmeier. Die Dynamik zwischen den Teilnehmern lasse sich auf Distanz kaum einschätzen. Unter anderem deshalb bietet Coachhub über seine Plattform auch nur Einzelcoachings an.
Auch Berater Heemeier hat schon Aufträge abgelehnt, bei denen aus seiner Sicht körperliche Präsenz wichtig ist. „Ein Verhandlungstraining mit Verkäufern kann ich übers Internet einfach nicht machen", sagt er. Auch große Seminare müssten weiter warten, notfalls bis Ende des Jahres.
Ob seine bisherigen Kunden ihn dann noch buchen, kann Heemeier derzeit nicht einschätzen, zu unklar sind die wirtschaftlichen Folgen der Krise. In jedem Fall aber werde er in Zukunft deutlich weniger Zeit in Seminarräumen und Hotels verbringen. „Die Kunden merken gerade, dass vieles auch online funktioniert. Ende des Jahres wird das ganze Netz voll sein mit Onlineangeboten." Sein Arbeitsalltag wird nach Corona ein anderer sein. Heemeier muss das gelassen sehen. Krisen sind schließlich sein Geschäft.
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