Auf derstandard.at erschien am 4. April 2015 ein „ Aufruf gegen Scheinmedizin", in dem Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin (EbM) und Klinische Epidemiologie der Donau-Uni Krems, Direktor der österreichischen Cochrane-Zweigstelle und Vize-Direktor des Research Triangle Institute - University of North Carolina Evidence-based Practice Center, USA, gegen fragwürdige Therapien und Ärztekammerdiplome in diesen Therapieformen wettert. Er leitet auch die Plattform medizin-transparent.at, Untertitel: „wissen was stimmt". Was zur Frage verleitet: Wie kann man so genau wissen, was stimmt?
Dabei gibt es so einige Sätze, die erklärungsbedürftig wären:
„Die Ärztekammer verteilt Diplome zu fragwürdigen Therapien..."
Es wird ihr nichts anderes übrig bleiben, denn in einer seriösen Wissenschaft ist alles fragwürdig. Wissenschaftshistoriker können ein Lied davon singen, dass die erstaunlichsten Entdeckungen dort geleistet werden, wo das Selbstverständliche infrage gestellt wird. Und würde die Schulmedizin nicht laufend infrage gestellt, gäbe es in ihr keinen Fortschritt.
„Eine medizinische Behandlung beinhaltet grundsätzlich die Annahme, helfen zu können." Und genau diese Annahme ist oft hilfreicher als die Therapie selbst. Und zwar auch in der Schulmedizin. Ärzte sind auf dem historischen Auge oft sehschwach. Es gab in der Geschichte zahllose (schulmedizinische) Therapien, die vielen Patienten geholfen haben waren, die sich aber hinterher als völlig unwirksam herausstellten. Daher forderte ein Medizinhistoriker schon vor 1900, mit einer neuen Therapie so schnell wir möglich so viele Patienten wie möglich zu behandeln - solange sie noch hilft! Solange Ärzte und Patienten davon überzeugt sind, ist die Therapie ungemein wirksam. Nach einiger Zeit geht die Wirksamkeit dann auf den Placeboeffekt zurück. Helfen ist also nicht unbedingt identisch mit „wirksam".
„Wissenschaftliche Medizin macht nichts anderes als diese Annahme so streng und objektiv wie möglich zu überprüfen."
Nur, wissenschaftlich gesehen ist die heutige „Wahrheit" der Irrtum von morgen. Der Begriff „Objektivität" ist im Zuge der Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert entstanden und musste im 20. Jahrhundert sogar in der Physik wieder aufgegeben werden. Selbst aus der Untersuchung der Materie ist vom Beobachter nicht zu abstrahieren, wie ursprünglich gefordert.
„Es geht um die Frage, wie Einrichtungen, die der Wissenschaftlichkeit verpflichtet sind, mit Scheinmedizin umgehen sollen." (Gemeint ist die Ärztekammer, die Diplome in Komplementärmedizin vergibt).
In diesem Satz ist nicht definiert, was Scheinmedizin ist (das wird auch sehr schwer fallen), und zweitens ist die Ärztekammer sehr wohl NICHT (nur) der Wissenschaftlichkeit verpflichtet. Eine nur der Naturwissenschaft verpflichtete Medizin wäre eine Absurdität, denn die Naturwissenschaft dreht sich um Materie in Raum und Zeit, und da kommt der Mensch nicht vor! Ärzte habe aber meist mit Menschen zu tun, auch wenn das vielen - verleitet durch eine Pseudowissenschaftlichkeit - gar nicht so sehr bewusst ist.
„Dürfen Ärzte ihre Patienten bewusst täuschen, indem sie Scheinmedikamente einsetzen und auf Placebowirkung bauen?"
Nach gesundem Hausverstand ist es doch so, dass sie dort, wo Aussicht auf Besserung mit Hilfe von „unwirksamen" Placebos besteht, diese sogar verwenden SOLLTEN. (Womit auch gleich betont werden soll, dass Placebos ja wirksam SIND, sonst wären es keine Placebos). Und wenn Homöopathen mit Placebos besser umgehen können als Schulmediziner, dann sind sie - zumindest in diesem Bereich - die besseren Mediziner! (Es geht hier gar nicht um die Frage, ob Homöopathie wirksam ist oder nicht, sondern darum, dass die Argumentation dagegen auch nicht immer seriös ist). Hier generell von „falschen Versprechungen" zu reden, ist jedenfalls peinlich, denn zumindest als Placebo IST sie zweifellos wirksam. Das wird ihnen ja von Schulmedizinern immer unterstellt.
„Außerdem besteht in manchen Fällen die Gefahr, dass durch die wirkungslosen Behandlungen wertvolle Zeit verloren geht und zu spät mit der richtigen Therapie begonnen wird."
Das ist richtig, diese Gefahr besteht, sollte aber von einem seriösen Arzt - und auch Homöopathen sind Ärzte, zumindest in Österreich - nach Möglichkeit verhindert werden. Auf der anderen Seite besteht aber die Gefahr, dass durch hemmungslosen Einsatz von Medikamenten die Patienten möglicherweise unnötig der Gefahr von Nebenwirkungen ausgesetzt werden, nämlich dort, wo andere Mittel ausreichen würden. So hat bei erhöhtem Cholesterinspiegel eine Lebensstiländerung mindestens die gleiche Wirkung wie Cholesterinsenker, deren Sinnhaftigkeit auch nicht erwiesen ist.Sieht man sich Statistiken an, wie viele Patienten nicht trotz, sondern an einer Therapie sterben, dann ist das mehr als erschreckend. So sehr kann das gar nicht verdrängt werden.
Auch Wissenschaftlichkeit ist zu hinterfragen! Damit zum Kern der Argumentation: der evidence based medicine - EbM). Die ist, das soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden, in der heutigen Zeit unabdingbar. Nur sollte man sich darüber klar sein, was sie leistet und was sie gar nicht leisten kann. Prinzipiell geht es in medizinischen Studien um einen fiktiven Durchschnittspatienten, der so in freier Wildbahn nicht vorkommt. Es müssen Patienten untersucht werden, die nur diese eine Erkrankung haben, was in der Praxis nicht gar so oft vorkommt. Das Ergebnis ist ein statistisches, d.h. man kann sagen, dass das Medikament in der Mehrzahl der Patienten mehr oder weniger wirken wird. (Dass bisher meist nur männliche Patienten untersucht und Frauen damit oft geschädigt werden, lassen wir einmal beiseite, das hat man inzwischen - spät, aber doch - erkannt). Man weiß aber auch, dass in vielen Fällen das Medikament wenig oder gar nicht wirken wird. Und wenn der Arzt einen konkreten Patienten vor sich hat, weiß er nicht, in welche Gruppe der fällt. D.h. er kann und muss die Studien im Hinterkopf haben, nicht mehr und nicht weniger, und immer schauen, ob der Patient - EbM hin oder her - nicht ganz was anderes braucht.
Zudem sagt die Wirksamkeit eines Medikaments auch nicht alles. Es mag ja wirksam sein, aber es könnte andere Lösungsmöglichkeiten geben, z.B. Lebensstiländerungen, die eventuell genauso wirksam sind, ohne Nebenwirkungen zu riskieren. Und wenn ein Homöopath mit seiner Placebotherapie genauso erfolgreich ist, dann ist doch der vorzuziehen, auch wenn man die Studien, die es sehr wohl gibt, aber das ist ein anderes Thema, nicht anerkennt.
Was aber unbedingt kritisch betrachtet werden MUSS ist, dass hinter der Schulmedizin massive geschäftliche Interessen stehen. Was noch nicht anzuprangern wäre, es ist selbstverständlich Aufgabe der Pharmaindustrie, Geschäfte zu machen. Aber es ist nicht Aufgabe der Ärzte, sich in diese Geschäfte einspannen zu lassen. Was jedoch das Schlimmste ist, die Methoden der Darstellung von Studienergebnissen (auch wenn sich das EbM nennt) sind oft ganz bewusst irreführend - um es einmal dezent auszudrücken. Die ersten Cholesterinsenker wurden z.B. mit einer relativen Risikoreduktion von Herz-Kreislauferkrankungen von 47% beworben. Das klingt dermaßen gigantisch, dass der Eindruck entsteht, man MUSS diese Medikamente geben. Am besten flächendeckend. Und dazu wurden die Grenzwerte laufend heruntergedrückt, was ebenfalls zu hinterfragen ist. Da haben die Experten wunderbar mitgespielt.
Funktionieren kann so etwas nur, weil Ärzte nicht die Zeit haben, sich mit Studien und deren Statistik auseinanderzusetzen. 47% ist einfach plakativ überzeugend. Aber es ist bloß relative Risikoreduktion. In absoluten Zahlen sind das nur mehr 2 Promille, also fast gar nichts. So wundert es nicht, dass Berechnungen, die auch die Sinnhaftigkeit dieser Therapie untersuchen, zu einem Zugewinn von 2-3 Wochen an Lebenszeit kommen, was keinen einzigen Patienten interessieren würde, wenn er daran denkt, dass er dafür das Medikament sein ganzes Leben lang nehmen und die Nebenwirklungen in Kauf nehmen muss. Dass die Kassen, die das finanzieren müssen, auch nicht nach der Sinnhaftigkeit fragen, ist völlig irritierend. Aber das nur so nebenbei.
Die Darstellung der relativen Risikoreduktion ist zwar statistisch korrekt, aber in Anbetracht dessen, dass die Ärzte sich nicht mit Statistik beschäftigen, eine bewusste und grobe Täuschung. Und das nennt man dann evidence based!
Fazit: Es wäre auch in der Schulmedizin vieles klarzustellen, auch vieles, was hier gar nicht angesprochen wurde, bevor man über anders denkende Kollegen herzieht.