Robert B. Fishman

Journalist, (Hörfunk-)Autor, Fotograf, Moderator, Workshop-Trainer, Bielefeld

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"Klimaneutral" mit Zertifikate-Zauber | Forum - Das Wochenmagazin

Illustration: Foto: Getty Images / iStockphoto / Firn

Ob ein Paket von DHL, ein Schnitzel von Rewe oder ein ganzes Unternehmen: Immer mehr Produkte, Dienstleistungen oder Firmen nennen sich „klimaneutral". Oft steckt dahinter Greenwashing und ein Versprechen für das Klima, das nicht gehalten wird. Aufforstung in Sachsen: Bäume müssen mindestens zehn Jahre wachsen, bevor sie CO2 kompensieren - Foto: imago images / Gottfried Czepluch

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und die Zentrale zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs (Wettbewerbszentrale) halten die Werbung mit der Behauptung, ein Produkt sei klimaneutral, für Verbrauchertäuschung. Paragraf 5 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) verbietet irreführende Werbung.

Beide Organisationen haben deshalb zahlreiche Unternehmen verklagt. Der Vorwurf: Die Siegel informierten nicht darüber, wie das Unternehmen die angebliche Klimaneutralität des jeweiligen Produkts erreicht hat. Die Klagen richten sich unter anderem gegen Shell. Der Konzern verkauft „klimaneutrales Motoröl" und gegen einen freiwillig zu zahlenden Aufpreis von 1,1 Cent/Liter „klimaneutrales Benzin". Ähnlich absurd klingt klimaneutrales Heizöl des französischen Öl-Multis Total.


Einen Prozess haben die Kläger schon gewonnen. Wirbt ein Unternehmen mit dem Begriff, müsse es - etwa über einen QR-Code - auf der Produktverpackung zumindest erklären, wie genau die Klimaneutralität erreicht werde. So urteilte 2021 das Landgericht Kiel. Weitere Urteile erwarten DUH und Wettbewerbszentrale für dieses Frühjahr.


Bilanzieren, vermeiden, verringern und den Rest „kompensieren"

Doch wie kommt ein Unternehmen zu der Behauptung, ein Produkt sei klimaneutral? Im Idealfall erstellt es zunächst eine Klimabilanz für dieses Produkt. Darin wird die Menge an Treibhausgas-Emissionen, die es verursacht, aufgelistet. Diese werden dann reduziert oder vermieden. Der unvermeidbare Rest wird anschließend „kompensiert".

Die Idee klingt schlüssig: Für klimaschädliche Gase, die ein Unternehmen oder seine Produkte verursachen, bezahlt die Firma einen Ausgleich an eine Organisation. Diese finanziert mit den Einnahmen Klimaschutz-Projekte vorwiegend in Ländern des Globalen Südens. Dort bewirkt man mit einem investierten Euro, wegen der niedrigeren Kosten zum Beispiel für Löhne, deutlich mehr fürs Klima als in Europa.


Das Problem: Diese Einsparung lässt sich nur schwer messen. 2016 untersuchte das Öko-Institut mehrere Hundert Klimaschutz-Projekte, die sich aus CO₂-Kompensationszahlungen finanzieren. Ergebnis: Nur etwa zwei Prozent von ihnen leisten, was sie versprechen. 2022 kam die Carbon Credit Quality Initiative CCQI zu ähnlichen Ergebnissen: 85 Prozent der Projekte und etwa 73 Prozent der für ihre Arbeit ausgestellten Zertifikate hätten „eine geringe Wahrscheinlichkeit, die versprochene Minderung von Treib­hausgas-Emissionen" zu liefern.


Aufforstung: zu langsam, zu unsicher

Besonders schwach fallen die Bilanzen der diversen Aufforstungsprojekte aus. Die Kompensationsanbieter finanzieren Baumpflanzungen. Treibhausgas-Emissionen kann man damit nur sehr bedingt ausgleichen. Bäume müssen mindestens zehn Jahre lang wachsen, bis sie in nennenswertem Umfang Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen. Anfang des Jahres berichtete das Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America" (PNAS), dass zerstörte Regenwaldflächen zumindest in den ersten zehn Jahren mehr CO₂ abgeben, als eine Aufforstung gleicher Fläche bindet. Hinzu kommt, dass viele Jungbäume die ersten Monate nicht überleben. Schädlinge, Stürme und Feuer können den jungen Wald zerstören, bevor er in nennenswertem Umfang Kohlenstoff bindet. Verloren ist der Vorteil fürs Klima auch, wenn zwar ein neuer Wald entsteht, ein anderer dafür aber abgeholzt wird. Noch fragwürdiger wird es, wenn Anbieter Zertifikate dafür verkaufen, dass bestehende Wälder nicht abgeholzt werden. Ein Mehr an Klimaschutz entsteht daraus nicht.

Die deutsche Genossenschaft The Generation Forest kauft von den Einlagen ihrer Mitglieder Land in Panama, auf denen sie Wälder anpflanzt oder bestehende Wälder schützt und erhält. Unter dem Titel „10 Aspekte, die du bei der Wahl von Aufforstungsprojekten beachten solltest", nennen die Klimaschützer zahlreiche Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Wald dauerhaft gegen die Erderwärmung wirkt.


Kaum vergleichbare Standards, wenig verlässliche Informationen

Neben den für einige Branchen verpflichtenden Verschmutzungsrechten des Europäischen Emissionshandels ETS ist ein unregulierter Markt für freiwillige CO2-Kompensationen entstanden. Dafür haben Berater-Firmen und Nichtregierungsorganisationen Standards festgelegt. Nach diesen berechnen sie die angebliche Verringerung der Treibhausgas-Emissionen durch einzelne Klimaschutz-Projekte. Andreas Knie, Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin WZB, hält keines dieser Siegel für verlässlich. In einem ausführlichen Hintergrundbericht wiesen die Wochenzeitung „Die Zeit" und die englische Zeitung „The Guardian" Anfang des Jahres nach, wie etwa mit den Siegeln des weit verbreiteten Verra-Standards VCS (Verified Carbon Standard) Klima-Entlastungen behauptet werden, die einer Überprüfung nicht standhalten.


Zahlreiche Organisationen und Unternehmen verkaufen solche Treibhausgas-Kompensationszertifikate. Angebote von weniger als zehn Euro je Tonne CO₂-Äquivalent legen für Kritiker den Verdacht nahe, dass hier geschummelt wird. Die Preise seriöser Organisationen wie der gemeinnützigen „Atmosfair" liegen bei etwa 23 bis 25 Euro.

Einen Beitrag zu mehr Klimaschutz leisten außerdem nur Projekte, die dauerhaft und zusätzlich Treibhausgas-Emissionen verringern. Beides ist im Einzelfall kaum zu überprüfen. Viele wirtschaftlich rentable Projekte wie Solar- und Windparks oder Wasserkraftwerke würden auch gebaut, wenn es dafür keine Klimaschutz-Zertifikate gäbe.


Das meiste Geld geht an Berater und Verkäufer

Anja Kollmuss berät Organisationen und Regierungen zur Klimapolitik. Sie kritisiert, dass sich mit den Kompensationszahlungen einige wenige auf Kosten des Klimas „eine goldene Nase verdienen". Der Voluntary Carbon Market Report 2022 beziffert den Umsatz mit CO₂-Kompensationszertifikaten auf weltweit zwei Milliarden US-Dollar. Bis 2027 würden es voraussichtlich 17 Milliarden.


Bei den Klimaschutz-Projekten komme davon nur ein kleiner Teil an. Die Wochenzeitung „Die Zeit" berichtet von einem Anbieter, der für CO₂-Kompensationszertifikate 571 Euro kassiert habe. Davon habe er nur 149 Euro an „Klimaschutz-Projekte" überwiesen. Ähnliche Zahlen hat die Verbraucher-Organisation Foodwatch recherchiert. Anja Kollmuss geht noch weiter: Ihrer Meinung nach schaden die meisten CO₂-Kompensationen sogar dem Klimaschutz. Mit diesen Zertifikaten täusche man den Menschen vor, sie könnten weiter leben und konsumieren wie bisher.


Fragwürdige Siegel

Derweil drucken Unternehmen weiterhin Siegel mit dem Versprechen, ihre Produkte seien klimaneutral, auf die Verpackungen. Keines davon wird jedoch von unabhängigen Stellen kontrolliert. Jonas Grauel hat sich bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen intensiv damit beschäftigt. Er sieht hier einen schwer durchschaubaren, nicht regulierten Markt. Das Versprechen „klimaneutral" führe Verbraucherinnen und Verbraucher in die Irre. Diese erwarteten von einem angeblich klimaneutralen Produkt, dass es umweltfreundlich hergestellt werde.


Dass dem nicht so ist, hat etwa die Verbraucherschutz-Organisation Foodwatch an vielen Beispielen belegt. 2021 zeichnete sie scheinbar klimaneutrales Hähnchenbrustfilet der Rewe-Marke Wilhelm Brandenburg mit dem Goldenen Windbeutel für die dreisteste Werbelüge des Jahres aus. Foodwatch mahnte Rewe ab, weil „das Hähnchenbrustfilet weder emissionsfrei hergestellt noch die bei der Produktion anfallenden Emissionen ausgeglichen" würden. Die Organisation hatte sich das Waldprojekt in Peru angesehen, mit dem Rewe angeblich Emissionen aus der Produktion der Hähnchenbrustfilets kompensiert hatte. Fazit: „Das Projekt schützt den dortigen Wald und damit auch das Klima nicht." Inzwischen hat Rewe nach Foodwatch-Angaben seine Klimaneutral-Werbung für das Produkt zurückgezogen.


Kompensation bestenfalls zweite Wahl

Die CO₂-Kompensationszertifikate sind also - wenn überhaupt - fürs Klima nur zweite Wahl. Das Problem: Vermeintliches Kompensieren von Treib­hausgas-Emissionen ist billiger, als sie im eigenen Unternehmen zu vermeiden. Die Folge: Hersteller sparen sich eigene Klimaschutz-Maßnahmen und kaufen dafür billige Kompensationszertifikate. Jens Wulfsberg ist Präsident der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik. Er schätzt, dass die Unternehmen 80 Prozent der angeblichen Klimaneutralität ihrer Betriebe und Produkte herbeikompensieren. Nur etwa 20 Prozent beruhten auf Verbesserungen im Unternehmen selbst, bei Zulieferern oder an den Produkten. Und das sei schon richtig gut.

Um das Klima wirklich zu entlasten, empfiehlt Wulfsberg den „Enough to Use"-Ansatz. Die Hersteller sollten ihre Produkte auf die Funktionen reduzieren, die Kundinnen und Kunden wirklich benötigen. Auch Manuel Wiemann, Klima-Fachmann bei Foodwatch, rät zu Klimaschutz im eigenen Unternehmen. Die Firmen sollten die eigenen Treib­hausgas-Emissionen senken, statt Geld in fragwürdige Kompensationszertifikate zu stecken. Auch Nicolas Kreibich vom Wuppertal Institut hält es für sinnvoll, Klimaschutz-Projekte zu unterstützen. Man solle sich oder seine Projekte damit aber nicht als klimaneutral bewerben. Erste Anbieter haben schon Konsequenzen aus dem Streit gezogen. Sie verkaufen ihre Zertifikate nur noch als „Beitrag zum Klimaschutz".


Alternativen zur Kompensation Wer mit Klima­neutralität wirbt, muss über einen QR-Code erklären, wie diese erreicht wird - Foto: imago images / Gottfried Czepluch

Mehrere Organisationen wie die als gemeinnützig anerkannten Compensators oder For Tomorrow kaufen von den Spenden, die sie erhalten, EU-Verschmutzungsrechte aus dem Europäischen Emissionshandel ETS und legen diese still. Damit möchten sie den „europäischen Großverschmutzern" die Zertifikate „wegkaufen" und eine Verringerung der Treibhausgas-Emissionen erzwingen, indem sie die Preise für die Verschmutzungsrechte in die Höhe treiben. Industrieunternehmen und Energieversorger müssen diese Zertifikate kaufen, bevor sie Treibhausgase in die Luft blasen. Das Emissionshandelssystem wird auf weitere Branchen ausgeweitet. Aktuell kostet ein Verschmutzungsrecht für eine Tonne CO₂-Äquivalent rund 100 Euro.


Die Organisation „Climate Fair" der Klimaschutz-Plus-Stiftung in Heidelberg sammelt Spenden für Klimaschutz-Projekte in Deutschland. Sie finanziert daraus vor allem Maßnahmen zum Energiesparen wie die Umstellung auf LED-Beleuchtung sowie Wind- und Solaranlagen. Damit hebelt die Stiftung ihre Spendeneinnahmen auf das Eineinhalb- bis Zweifache. Die Einnahmen, die diese Investitionen abwerfen, fließen in regionale Bürgerfonds. Diese unterstützen gemeinnützige Projekte vor Ort. Die Spenderinnen und Spender entscheiden gemeinsam über die Verwendung dieser Einnahmen.

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