Robert B. Fishman

Journalist, (Hörfunk-)Autor, Fotograf, Moderator, Workshop-Trainer, Bielefeld

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Fürs Leben brennen

Hermann Wenning war ganz unten. Mit 13 Jahren erste Alkoholvergiftung, mit 17 Alkoholiker. Andere Drogen kommen dazu, Beschaffungs­kriminalität und Knast. Heute ist das ver.di-Mitglied clean und in Sachen Suchtprävention unterwegs


Von Robert B. Fishman

Rund 15 Jugendliche lauschen Hermann Wenning. Er ist heute in Sachen Suchtprävention beim Internationalen Bund in Bochum zu Gast. Die Augen der Jugendlichen fixieren den 55-Jährigen, der am Lehrertisch ruhig und präzise berichtet - von seiner Jugend auf dem Dorf, von Sauf­exzessen, von seiner Angst, seiner Unsicherheit, seinem Untergang. Von Alkohol, Drogen, vom Leben auf der Straße, von Sucht, Einsamkeit, Einbrüchen, noch ­härteren Drogen, Knast, Therapie - und von der Wende, die sein Leben verändert.

Hermann Wenning, einer von drei ­Söhnen einer Bauernfamilie, wächst in einem Dorf im Münsterland auf. Fußballverein, Schule, Kumpels, feiern, Familie. Mit 13 landet er im Krankenhaus: Alkoholvergiftung. Der verschlossene Kerl wollte allen zeigen, was er drauf hat. Er versucht, sich den Respekt seiner Freunde zu ersaufen. Stiefeltrinken nennen sie den Wettbewerb: Wer das 3-Liter-Glas Bier leert, ist der Held. Wer verliert, zahlt die nächste Runde. „Alkohol ist legal und überall verfügbar", sagt Hermann Wenning. „Deshalb ist er so gefährlich." Er trinkt weiter. Korn, Bier, Wein, Sekt findet er im Keller, im Kühlschrank, in der Garage. „Wenn da mal eine Flasche fehlt, merkt das ­niemand."

Meister im Lügen

Mit 17 ist er Alkoholiker. Die Eltern schicken ihn zu den anonymen Alkoholikern. Doch er geht stattdessen heimlich in die nächste Pommesbude und trinkt weiter. „Suchtkranke entwickeln Strategien, werden Meister im Lügen." Im Schnitt dauere es sechs Jahre, bis ein Alkoholiker auffalle, sagt er.

Hermann ist Sportler, spielt in der Fußballmannschaft, trainiert für den Volkslauf und gewinnt die 10.000 Meter. ­Ehrgeiz treibt ihn. Er faltet seine Mannschaftskameraden zusammen, wenn sie einen Fehler gemacht haben. „Hinterher hat es mir dann leidgetan." Im Verein bekommt die Siegermannschaft immer eine Kiste Bier. „Keine Macht den Drogen", heißt es bei den Profi-Spielen. Dann folgt die Werbung für Bier. Das Schalke-Stadion heißt Veltins-Arena.

Hermanns Mutter möchte, dass Hermann Bankkaufmann wird. „Etwas Sicheres." Von der höheren Handelsschule kommt er mit einem „Full House" zurück: Drei Sechsen und zwei Fünfen. Er beginnt eine Lehre als Landwirt, soll nun den Betrieb der Eltern übernehmen. Vor der Abschlussprüfung trinkt er eine halbe ­Flasche Korn. Er schafft den Abschluss im zweiten Anlauf und heuert dann bei der Müllabfuhr an. Die Kollegen halten zu ihm, wecken ihn, wenn er morgens im Rausch verschläft. Sie verraten ihn nicht, als er betrunken vom Müllwagen fällt.

„Ich kann jederzeit aufhören", denkt er und trinkt weiter, kellnert in einer Disko. Mit 31 schluckt er seine erste Ecstasy: ein heller, froher Rausch, schwerelos, nicht so dumpf und widerlich wie der Alkohol. Er fühlt sich unverwundbar. Doch die „Abkürzung zum Glück" wird zur Sackgasse. Den Kick vom ersten Mal erlebt Hermann nie wieder, er erhöht die Dosis, schluckt Amphetamine, schläft kaum noch, fühlt sich fit, bis nach einem halben Jahr der Absturz folgt: Antriebslosigkeit, Depressionen. Seine Freundin, die ihm helfen ­wollte, verlässt ihn. Weil er immer öfter nicht zur Arbeit kommt, schmeißt ihn sein Chef raus.

Vom Flaschendieb zum Serieneinbrecher

Er trinkt, schluckt Pillen, sitzt alleine in seiner Wohnung und hört Musik, bis ihm das Geld ausgeht. Eines Nachts kommt er auf die Idee, Leergut auf Baustellen zu klauen. „Viel zu einfach", nennt Hermann den Einstieg in die Kriminalität. Obwohl den zu diesem Zeitpunkt 32-Jährigen das schlechte Gewissen plagt, macht er ­weiter. Er braucht Geld für Drogen, koste es, was es wolle - damals 100 Mark am Tag. 1.000 Mark Arbeitslosenhilfe reichen nicht. „Suchtdruck" nennt Hermann die Not. Mit einem Gullydeckel wirft er die Scheiben eines Aldi-Marktes ein und klaut Zigaretten - keine Alarmanlage, keine Polizei. Er räumt den ganzen Laden aus. „Man wächst rein in die Kriminalität."

Nach einem halben Jahr wird er geschnappt: U-Haft, Bewährungsstrafe, Therapie. Nach 13 Tagen bricht er ab. „Der Suchtdruck." Sturztrunken fährt er nach Hamburg, weil „man dort am Hauptbahnhof leichter an Drogen kommt". Er jobbt, gibt alles Geld für Drogen aus. Ein Abhängiger bietet ihm eine Heroinspritze an. Hermann zögert, nicht lange. „Ich bin leicht zu beeinflussen", sagt der heute so ruhig und besonnen auftretende, hagere Mann mit den dunklen, buschigen Augenbrauen. Verantwortlich sei er selbst für sich, nicht der Typ, der ihn angefixt hat.

Er braucht mehr Geld, bricht wieder in Büros ein, dann in Villen. Als ihn eine Hausbewohnerin ertappt, springt er durch das geschlossene Fenster. Er entkommt leicht verletzt. Das schlechte Gewissen plagt ihn heute noch. „Ich habe die Frau so verängstigt." Trotzdem macht er weiter. Dann der erste Wendepunkt: Am 9.9.99 wird er verhaftet. „Dafür bin ich heute noch dankbar", sagt Hermann. Seine klare, feste Stimme lässt keinen Raum für Zweifel.

Der Richter widerruft die Bewährung und verurteilt ihn zu insgesamt 45 Monaten. In der Haft kommt er „leichter an Drogen als draußen". 60 Prozent der ­Knackis seien abhängig.

Eines Tages schickt ihm sein Bruder ­einen Artikel aus der Heimatzeitung über die Geschichte der Volksläufe im Ort. Er hält immer noch mit drei Siegen den Rekord. Da packt ihn der Ehrgeiz. Im winzigen Gefängnishof fängt er wieder an zu laufen, immer im Kreis. Keine zwei Kilometer schafft er beim ersten Versuch. Dann steigert er seine Leistung von Tag zu Tag. Ein Wärter beobachtet ihn, bewundert seine Ausdauer und lädt ihn zum Volkslauf nach Neumünster ein. Offiziell hat er als Wiederholungstäter keinen ­Ausgang. Trotzdem darf er mit. Eine Gelegenheit zur Flucht?

Rückkehr des verlorenen Sohnes

„Dieser Beamte hat mir vertraut." Hermann will ihn nicht enttäuschen. Eine ­Sozialarbeiterin besorgt ihm einen Therapieplatz. Hermann trainiert weiter, lernt offen über sich zu sprechen und zu seinen Schwächen zu stehen. „Lauf zurück ins Leben" nennt er das Buch, das er später über sein Leben schreibt. In der Therapie zieht er „eine klare Linie": keine Drogen, kein Alkohol, auch keine Zigaretten. „Dann ist es leichter." Geholfen habe ihm, dass die Therapeuten mit ihm seine ­Stärken herausgearbeitet haben. „Jeder Mensch braucht etwas, wofür er brennt", eine Alternative zu den Drogen, ein Ziel. Für Hermann ist es der Sport.

Als er nach der Therapie nach Hause kommt, liegt sein Vater im Sterben: Krebs. Er erlebt noch die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Einige Zuhörer schlucken, als Hermann diese Geschichte erzählt. ­Einer jungen Frau stehen die Tränen in den Augen.

In der Therapie, so sagt Hermann, habe er „gelernt, schwere Dinge auszuhalten", auch den Tod seines Vaters. „Ich hatte ein sehr gutes Elternhaus", versichert er. Sucht sei auch Veranlagung. Seine Brüder seien trinkfest, aber nicht abhängig. Seine Familie habe immer zu ihm gestanden, seine gläubige Mutter für ihn gebetet.

Hermann findet eine Stelle als Straßenwärter bei der Stadt Ahlen, in Hamm eine eigene Wohnung. Kaum hat er den Arbeitsvertrag unterschrieben, tritt er ver.di bei. Nur gemeinsam könne man „seine Bedürfnisse durchsetzen". Hermann schätzt die Gemeinschaft und den Zusammenhalt in der Gewerkschaft.

Oft fährt er die 15 Kilometer zur Arbeit mit dem Rennrad. Das Laufen musste er aufgeben: Probleme mit dem Bein. Er hinkt leicht. Ein Freund hat ihn auf die Idee gebracht, ein Buch über sein Leben zu schreiben. Zwei weitere sind inzwischen erschienen.

In Vorträgen und Lesungen erzählt er seine Lebensgeschichte, um zu zeigen, wie brutal das Leben mit Drogensucht und Alkohol ist. Es werde viel zu wenig für die Prävention getan. Vor allem müsse man damit früher anfangen, „in der 6. oder 7. Klasse". Hermann ist dafür, ­Drogen für Erwachsene zu legalisieren. Wer wirklich abhängig ist, solle den Stoff kontrolliert vom Arzt bekommen. Dann gebe es keinen Grund mehr für die Beschaffungskriminalität. Das Alkohol­verbot für Jugendliche müsse die Gesellschaft allerdings durchsetzen. Das Suchtgedächtnis entsteht in dieser Zeit. Er weiß es aus eigener Erfahrung.

„Respekt", antwortet ein junger Mann mit Basecap und Drei-Tage-Bart auf die Frage, wie ihm der Vortrag gefallen habe. „Sehr authentisch, glaubwürdig", sagt ­eine andere Teilnehmerin. Mit seinen ­Vorträgen möchte er „der Gesellschaft etwas zurückgeben", sagt Hermann. Viele Menschen haben „ihm geholfen und an ihn geglaubt, auch als er ganz unten war". Neben dem eigenen Willen sei dies das Wichtigste, um den Absprung aus der Sucht zu schaffen. Mehr Infos unter www.hermannwenning.de

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