Robert B. Fishman

Journalist, (Hörfunk-)Autor, Fotograf, Moderator, Workshop-Trainer, Bielefeld

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Reportage

Breslau/Wroclaw: Schichten von Geschichte

Auferstanden aus Ruinen
Breslau hat sich zur lebensfrohen Kulturmetropole gewandelt. 2016 wird das polnische Wroclaw Europäische Kulturhauptstadt

Von Robert B. Fishman

Breslau. Wroclaw. Polens viertgrößte Stadt entwickelt sich zur Kreativ-Metropole. Gleichzeitig entdeckt Schlesiens Hauptstadt ihr deutsches und jüdisches Erbe wieder. Die vom Architekten Max Berg 1913 erbaute Jahrhunderthalle - seinerzeit die größte freitragende Eisenbetonkonstruktion der Welt und inzwischen Weltkulturerbe - ist frisch renoviert. Als Kulturhauptstadt-Projekt entsteht derzeit WuWa 2, der Nachfolger der legendären Wohn- und Werkraumausstellung WuWa von 1929. Damals bauten schlesische Architekten Ikonen der heute klassischen Moderne. Während sich in der wieder aufgebauten Altstadt die Touristen tummeln, eröffnen junge Kreative in vergessen geglaubten Altbauquartieren wie Nadodrze Galerien, Designerläden und ausgefallene Cafés. Das neue junge Breslau bevölkern mehr als 100.000 Studenten und mehr als 300 Zwerge.

Einer sitzt hinter Gittern, ein anderer hängt an einer Straßenlaterne ein Dritter bewacht den Zugang zur Unterwelt. Mehr als 100 Zwerge verstecken sich auf Gassen und Plätzen der Stadt. Die rund 30 Zentimeter kleinen Bronzefiguren erinnern an die jungen Leute, die in den 80er Jahren mit anarchischen Protestaktionen die Staatsmacht provozierten. Als Gnome verkleidet machten sie das Regime lächerlich.

Nun wartet neue Arbeit auf die frechen Kerle und die jungen Leute, die sich vom autoritären Staat nicht alles gefallen lassen. Im Herbst hat die PIS Partei für „Recht und Gerechtigkeit“ die Macht in Polen übernommen. Kurz danach versuchte der neue Kulturminister ein Stück der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek vom Spielplan eines Breslauer Theaters abzusetzen. Es passte wegen einer angeblich „pornografischen Szene“ nicht ins national-konservative katholische Weltbild der PiS. Die neuen Herrscher legen Fernsehen und Radio an ihre ideologische Kette. Das Verfassungsgericht wird entmachtet. In vielen Städten, auch in Breslau gehen die Menschen wieder demonstrieren. Die Polen und vor allem die Breslauer haben schon viel überstanden: Habsburger, Böhmen, Polen, Preußen, Nazis, Kommunisten. Breslauer Freigeister wehrten sich immer wieder gegen Unterdrücker: Ein Denkmal in der Innenstadt erinnert an den Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, den die Nazis hingerichtet haben, eine Plakette an Edith Stein und eine lebensgroße Bronzefigur an Bischof Boleslaw Kominek, der sich Mitten im Kalten Krieg für Versöhnung engagierte. „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, hat er damals an die Deutschen geschrieben.

Zwanzig Jahre zuvor hatten die Nazi-Verbrecher Deutschlands damals drittgrößte Stadt zur „Festung“ erklärt. Jenseits der heutigen Grunwaldzki-Brücke rissen sie ganze Straßenzüge ab, um eine Start- und Landebahn zu bauen. So setzte sich der Gauleiter der Region beim Anmarsch der Roten Armee ab.

Nach dem Krieg mussten die Deutschen Stadt und Land verlassen. In ihre Häuser zogen vor allem Polen aus der heutigen Westukraine. Die Alliierten hatten die „Westverschiebung“ Polens beschlossen. Die zwanzig Jahre zuvor von Polen eroberten Regionen um Brest und Lemberg (Lwow) wurden wieder ukrainisch, Pommern, das südliche Ostpreußen und Schlesien mit seiner Hauptstadt Breslau polnisch. „Wiedergewonnene Gebiete“ hießen nun die ehemals „deutschen Ostgebiete“.

„Noch nirgends habe ich so viele Schichten der Vergangenheit ineinander verwoben gesehen“, staunt die Fotografin Verena Blok. Als Gastkünstlerin der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 lebt die 25jährige für ein paar Monate in Breslau.

„Zeitschichten“ nennt sie den Kontrast der vielen Architekturstile in Wroclaw: Hier ein klassisch-moderner Bau aus den 1920ern wie das Sparkassengebäude am Salzmarkt, daneben detailgetreu restaurierte österreich-habsburgische Bürgerhäuser. Stadtteile wie Nadodrze oder das so genannte Bermudadreieck an der Straße der Pariser Kommune erscheinen wie vor 50 oder 60 Jahren schockgefroren. Seit dem Ende des Sozialismus tauen die grauen Viertel mit ihren fünf- und sechsstöckigen preußischen Mietskasernen der Gründerzeit wieder auf.

Oberbürgermeister Rafal Dutkiewicz regiert die rund 680.000 Worclawer seit 13 Jahren. Gerne erzählt er vom Breslauer Wirtschaftswunder: Viele internationale Unternehmen haben sich angesiedelt - auch wegen der Nähe zu Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist nach offiziellen Angaben auf unter vier Prozent gesunken. Dutkiewicz, Jahrgang 1959, studierte Mathematik und Philosophie, ging in die Wirtschaft, wurde Headhunter, schließlich Politiker.

Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus mit seinen Straßencafés und Restaurants plätschert ein moderner Brunnen. Ein junger Mann zaubert mit einem Seil an zwei Stöcken Seifenblasen in den blauen Himmel, manche groß wie ein Auto. Kinder springen jauchzend in die glitzernd durch die Luft wabernden Ballons. Die Klänge eines Liedermachers mischen sich mit den Pop-Songs einer Band auf der anderen Seite des Platzes. Die vielen Cafés wie das PRL, einst die offizielle Abkürzung der polnischen Volksrepublik, sind gut besucht. Die Ostalgie-Welle hat Breslau erfasst. Die Kellnerinnen bedienen in einer Art Pionieruniform mit rotem Tuch um den Hals. Drinnen hängen Bilder von Stalin, den Führern des sozialistischen Polens und Propagandaplakate. Der untergegangene real existierende Sozialismus ist zur Touristenattraktion geworden.

Breslaus Zukunft beginnt im Stadtteil Nadodrze hinter der Uni. Konrad, Hipster-Bart und gegelte Haare, sitzt auf einem Stapel Holzbretter neben einem ausrangierten Fernseher im Hinterhof eines unsanierten Altbaus aus preußischer Zeit. Der 28jährige nennt sich Marketing-Manager des Start-Up-Unternehmens Panato. Seine Kolleginnen und Kollegen entwerfen drinnen vor Computerbildschirmen Designs für Beutel und andere stabile Modeaccessoires für den Alltag. Das Leben vor der Haustür liefert ihnen die Ideen. „Wenn Du mit über die holprigen, löchrigen Pisten radelst, brauchst Du Taschen aus festem Material“, erklärt Konrad. Die Räume teilt sich Panato mit dem gleichnamigen Café, in dem die Gäste für die Zeit bezahlen, die sie dort verbringen. Umgerechnet 2 Euro 88 kostet die Stunde inklusive Kaffee, Kuchen oder Suppe.

Wie das Design-Taschen-Werk funktioniert das Café als Kollektivbetrieb oder neudeutsch „Social Business“. Es gibt keinen Chef und keine Chefin. Arbeit und Ertrag werden geteilt, Entscheidungen gemeinsam getroffen. “Das ist manchmal mühsam, aber es funktioniert“, weiß Mit-Inhaberin Patricia, die nebenbei noch als PR-Beraterin arbeitet. Sie liebt Breslau und speziell Nododrze. Die Leute seien toleranter als anderswo in Polen, die Atmosphäre lockerer. Anders als zum Beispiel im konservativen Krakau müsse sie sich hier nicht herausputzen, bevor sie ausgeht. Vor der Gentrifizierung in Nadodrze hat sie keine Angst. Noch seien die Mieten günstig und die Stadt froh, wenn Leute in die Wohnungen ziehen und Läden eröffnen, die das überaltete Viertel beleben.

Bevor der Wandel begann galt Nadodrze als gefährliches Glasscherbenviertel, »wo die Zigeuner wohnten«. Neuerdings ziehen immer mehr Studenten in die günstigen Wohnungen des Viertels. Künstler und junge Unternehmer gründen Cafés, Galerien und Läden wie das Panato mit seinen Design-Produkten.

Marketing-Manager Konrad liebt das Quartier mit den alten Gebäuden, versteckten Hinterhöfen und „den vielen coolen Leuten“. Auf den Straßen liegt das deutsche Kopfsteinpflaster der vorletzten Jahrhundertwende. Seitdem ergrauen die bröckelnden Fassaden der vier- und fünfstöckigen Mietshäuser. An einem Platz überdauert ein kreisrunder Weltkriegs-Hochbunker nutzlos die Zeiten. Graffity-Künstler haben Einfahrten mit leuchtend-bunten Wandbildern dekoriert.

Im Info-Büro, das die Stadt für Nadodrze in der Erdgeschosswohnung eines Altbaus eingerichtet hat, sitzt Edward Skubisz an einem der rohen Holztische. Der 65jährige ist in Holland aufgewachsen. Sein Vater war im Krieg Soldat der Polnischen Heimatarmee. Auf Seiten der Briten kämpfte er gegen die Nazi-Besatzung und blieb nach 1945 in Breda. Erfahrungen, die Edward prägten. Er gründete die Stiftung Dom Pokoju, Haus des Friedens, die in Polen, den Niederlanden und Deutschland Versöhnungsprojekte fördert. Die Stiftung hat zwei Tagebücher von Holocaustüberlebenden herausgegeben und organisiert Bildungsprogramme an Schulen. In Nadodrze richtet sie zusammen mit Senioren aus dem Viertel ein Nachbarschaftsmuseum ein.

Auch Edward lobt seine Wahlheimat. Die Stadt kümmere sich um die große Kultur wie um die kleine in den Vierteln. Überall sehe man in Wroclaw die Spuren der österreichischen, deutschen und der polnischen Geschichte. Inzwischen hätten die Nationalitäten und Religionen ihren Frieden miteinander gefunden.

Am Südrand der Altstadt hat diese Toleranz sogar ein eigenes Quartier. Das ehemalige jüdische Areal hat die Stadt zum „Viertel des gegenseitigen Respekts“ erklärt. Rund um die frisch restaurierte Synagoge zum Weißen Storch beten Juden, Christen aller Richtungen und Muslime gemeinsam. Dazwischen haben sich ein Fahrradvermieter mit Café, Kneipen und Clubs angesiedelt. Breslau ist auf einem guten Weg.

Breslau Info:

Polnisches Fremdenverkehrsamt, Hohenzollerdamm 151
14199 Berlin, Tel.: +49 (0) 30 210092-0 www.polen.travel/de

Touristinfo Breslau: Rynek 14, http://www.wroclaw.pl/de/touristeninformation

Europäische Kulturhauptstadt 2016 (Englisch): http://wroclaw2016.pl/en/ und eine Vorausschau auf das Programm unter http://orf.at/stories/2316664/2316618/

Stadtführungen zu verschiedenen Themen gegen Spende/Trinkgeld auf Englisch und Deutsch: http://freewalkingtour.com/wroclaw/

Kultur:
Neues Musikforum: Das 2015 eröffnete hypermoderne Kulturzentrum bietet mehrere Konzertsäle mit Top-Akustik: http://www.nfm.wroclaw.pl/de/

Museum für Moderne Kunst in einem Weltkriegsbunker
www.muzeumwspolczesne.pl

BarBara:
renovierte Bar, in der sich in den 60er Jahren die Oppositionskünstlergruppe „orangene Alternative“ traf. Nach 20 Jahren Leerstand zog hier der Infopoint der Eur. Kulturhauptstadt ein. Es gibt kleine Gerichte, Kaffee, Kuchen. Jeden Dienstag treten Künstler aus der Region auf der offenen Bühne auf. Am Wochenende stehen u.a. Performances, Konzerte, Lesungen auf dem Programm. Ul. Swidnicka 8c Ecke Kazimierza Wielkiego, www.wroclaw2016.pl/barbara

Bente Kahan Stiftung: Kultur in der Synagoge zum Weissen Storch http://fbk.org.pl/new/de/

Ossolineum: Ab 2016 stellt das Ossolineum auf dem Gelände der im 18. Jahrhundert gegründeten Universität die Original-Handschrift con „Pan Tadeusz“ des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz aus. http://ossolineum.pl/

Ausblick:
Von der Terrasse im 6. Stock des 1892 erbauten Luxushotels Metropol bietet sich ein wunderbarer Ausblick über die Innenstadt mit dem Forum Neue Musik.
Wer noch höher hinaus will, fährt (mit dem Lift) auf den Turm des Doms oder klettert (nur zu Fuß) die mehr als 300 Stufen der engen Wendeltreppe auf den Turm der Sankt Elisabeth Kirche hinter dem Marktplatz.

Architektur:

Jahrhunderthalle:
1911-13 ließ Stadtarchitekt Max Berg die damals weltgrößte freitragende Betonhalle errichten. Inzwischen zählt sie zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Vier-Kuppel-Pavillon und die Pergola nebenan tragen die Handschrift von Hans Poelzig. Er war damals Direktor der Breslauer Kunstgewerbeschule und gilt als einer der Wegbereiter des modernen Bauens im frühen 20. Jahrhundert. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehört das Berliner Haus des Rundfunks. http://halastulecia.pl/de/

Stadtteile:
Infopunkt Nadodrze, ul. Lokietka 5, dort gibt es kostenlos einen sehr übersichtlichen Stadtplan des Viertels mit interessanten Adressen http://pik.wroclaw.pl/okietka-5-Infopunkt-Nadodrze-m376.html

Panato-Cafe: Die Gästezahlen hier die Zeit, die sie dort verbringen. Die Stunde kostet 12 Zloty und 19 Groschen, Essen und Getränke inklusive, http://panato.org/