Gabriel Hartmann

Journalist, Wien | München | Kocaeli

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Türkei: „Herr Präsident, öffnen Sie Ihren Palast für Erdbebenopfer!"

Titelbild: HANDOUT / AFP / picturedesk.com

Nach der Erdbebenkatastrophe wird in der Türkei zu ungewöhnlichen Mitteln gegriffen, um die vielen Menschen ohne Zuhause unterzubringen. Jetzt rebellierenden die Studierenden, die ihre Wohnheime freimachen sollen.

Wien/Anakara/Yenimahalle | Nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in der Südtürkei und in Nordsyrien ist die Zahl der Todesopfer auf über 42.000 angestiegen, davon über 35.000 Tote in der Türkei. Am Dienstag wurden noch neun verschüttete Menschen gerettet. Am Mittwoch, also neun Tage nach den ersten Beben am 06. Februar, konnten in Kahramanmaras zwei Frauen aus den Trümmern geborgen werden. In Antakya wurden noch zwei Frauen nach 228 Stunden (!) lebend gefunden.


Die WHO schätzt, dass in beiden Ländern über 26 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Insbesondere das kalte Wetter, mangelnde Sanitärversorgung und die daraus drohende Ausbreitung von Infektionskrankheiten besorgt die Hilfsorganisationen. Experten schätzen, dass zwei Millionen Menschen in der Türkei wegen der Beben ihr Zuhause verloren haben. Um der plötzlichen Obdachlosigkeit der hunderttausenden Erdbebenopfer adäquat zu begegnen, greift die türkische Regierung nun zu kreativen Maßnahmen.


Studierende sollen ihre Buden räumen

Präsident Erdoğan verkündete am 11. Februar in Diyarbakır, dass Universitäten für den Frühling 2023 auf Online-Unterricht wechseln sollen. Studierende hätten außerdem zwei Tage Zeit ihre Sachen zu packen und nach Hause zu fahren, damit Erdbebenopfer in den in der Türkei zahlreich vorhandenen Studentenheimen untergebracht werden können.


Dazu muss man wissen: In der Türkei muss man, um studieren zu können, nach Abschluss der Hochschulreife zusätzlich einen anspruchsvollen Test namens YKS (Yükseköğretim Kurumları Sınavı) absolvieren. Je nach Punktzahl ergattert man sich so einen Studienplatz, oft an einer vom eigenen Heimatsort fernen Universität. Konservativen oder besorgten Eltern ist das teilweise nicht recht. Um die Entscheidung ihrer Kinder leichter zu akzeptieren, bringen sie die Erstsemestrigen meist in bewachten Studentenwohnheimen unter, wo die Eltern zum Beispiel abends beim Portier anrufen und nachfragen können, ob das Kind eh schon auf seinem Zimmer ist.


Heim zu den Eltern

Kurz gesagt: Unzählige Studierende mussten zuletzt spontan innerhalb zweier Tage, mitten im Winter, ihre Rückreise nach Hause organisieren. Das löste großen Unmut der Opposition und auf Social Media allgemein aus. Man solle die Studierenden in Ruhe lassen, hieß es, und die Erdbebenopfer in leerstehenden Hotels adäquat unterbringen. Auch die Ankündigung, Universitätskurse nur noch online abzuhalten, stieß auf Kritik.


Erdoğan solle seine Villen herausrücken

Der Journalist und Youtuber Cevheri Güven merkte an, Erdoğan habe insgesamt 15 leerstehende Villen, die er für Erdbebenopfer zugänglich machen solle.


Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) twitterte: „Wagen Sie es nicht, die Schulen zu schließen, tun Sie es nicht. Die psychische Gesundheit unserer Jugend hat unter der Covid-19-Pandemie gelitten. Lasst uns unseren jungen Menschen nicht noch mehr Schaden zufügen. Wir haben nur noch unsere Jugend." Die Arbeiterpartei der Türkei (TİP) forderte unterdessen den türkischen Präsidenten auf: „Lass die Universitäten in Ruhe, öffne deinen Palast!"


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