Gabriel Hartmann

Journalist, Wien | München | Kocaeli

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Türkisches Regierungsversagen sorgt für Wut nach Katastrophe

Titelbild: OZAN KOSE / AFP / picturedesk.com

Nach der Erbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet schwindet die Hoffnung. Nun kippt die Stimmung in Wut um. Denn der türkische Bausektor war in der Vergangenheit ein Herd für Korruption.

Wien/ Maraş | Eine Woche nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet am 06. Februar gehen die Rettungsarbeiten langsam zu Ende. Die Hoffnung noch Überlebende unter den Trümmern zu finden schlägt Berichten nach vielerorts in blanke Wut um. Die Sicherheitslage war zeitweise so unübersichtlich, dass Rettungsarbeiten pausiert werden mussten, da Menschen wegen Nahrungsmittel- und Wassermangel teilweise begannen zu plündern.


Mangelnde Rettungsarbeiten

In Städten wie Maraş, Pazarcık oder Adıyaman, die im Epizentrum liegen und mit am meisten von der Zerstörung betroffen sind, kamen anfangs kaum Rettungskräfte an, sodass die Menschen vor Ort gezwungen waren selbst nach Überlebenden zu suchen, oft mit bloßen Händen oder, wie in Adıyaman, mit eigens organisierten Baggern. Die Angst dabei für die Verschütteten potentiell tödliche Laienfehler zu begehen war groß, aber die Sorge um die Liebsten überwiegte dennoch.


In Maraş sicherten Mitarbeiter der Katastrophenschutzbehörde AFAD unter Polizeischutz Tresore von Bankfilialen der Halkbank, sowie von İş Bankası, anstatt weiter nach Überlebenden zu suchen. Anwohner konnten diese Form der Priorisierung von Wertgegenständen vor Menschenleben nicht fassen und äußerten lautstark ihre Verzweiflung.


Erschüttertes Vertrauen in den Staat

Der türkische Staat sei nicht dagewesen, als man ihn am meisten gebraucht habe, so lautet vielerorts der Vorwurf. AFAD sei unzureichend vorbereitet und nicht imstande gewesen effektiv und schnell Hilfe zu leisten. So spenden viele Menschen lieber Hilfsorganisationen, wie AHBAP („Anadolu Halk ve Barış Platformu", das Akronym heißt etwa „Kumpel") die vom Musiker Haluk Levent gegründet wurde, weil man der staatlichen Hilfe misstraut.


Nach dem Erbeben von İzmit/Gölcük 1999 wurde eine sogenannte Erdbebensteuer eingeführt, die private Transportsteuer (Özel İletişim Vergisi). Mit dem Erlös sollten eigentlich Gebäude gegen Erdbeben gesichert werden, das Geld wurde aber laut dem ehemaligen Finanzminister Mehmet Şimşek unter anderem für Infrastruktur allgemein und Schuldenbegleichung beim IWF zweckentfremdet. Insgesamt seien mit dieser Steuer über 88 Milliarden Türkische Lira eingenommen worden, nach heutigem Wechselkurs wären das etwa 4,7 Milliarden U.S. Dollar. Rechnet man aber frühere Wechselkurse mit ein kommt man auf circa 37 Milliarden Dollar.


Korruptionsvorwürfe tauchen wieder auf

Der Korruptionsskandal von 2013, bei dem über 30 AKP-nahe Geschäftsleute wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen wurden, zeigte ein Naheverhältnis zwischen den damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan und dem Bausektor auf. Vier Minister, deren Söhne im Zuge der Ermittlungen verhaftet wurden, mussten zurücktreten.


Während der Razzien wies Erdoğan selbst seinen Sohn Bilal in einem veröffentlichten Telefonat an 30 Millionen Euro Bargeld aus ihrem Haus verschwinden zu lassen. Erdoğan bezeichnete das Telefonat später als Fälschung.


Systematische Umgehung von Bauvorschriften

Ein Video von Präsident Erdoğan ging viral, in dem er 2019 in Maraş ein Amnestiegesetz lobte. 2018, fünf Wochen vor den Präsidentschaftswahlen, wurde dieses Amnestiegesetz erlassen, durch das insgesamt bis zu sieben Millionen illegal oder nicht vorschriftsgemäß gebauter Häuser rückwirkend Lizenzen erhielten. Kritikerinnen werfen auch deshalb der AKP Korruption mit Bauunternehmern vor, die zu einer systematischen Missachtung von Bauvorschriften geführt und den Tod von Zehntausenden durch die Beben mitverursacht habe.


Erdoğan wurde 1994 überraschend zum Bürgermeister von İstanbul gewählt. Im Wahlkampf wurde ihm vorgeworfen, er lebe in einem illegal gebauten Haus. Erdoğan nahm den Vorwurf dankend auf und erklärte, er, wie Millionen anderer in İstanbul auch, lebe in einem illegalen Haus, weil sich die Regierenden nicht genug um das Problem gekümmert hätten. Die Wählerschaft dankte ihm damals diese als Anti-Establishment wahrgenommene Haltung.


Nach der Erdbebenkatastrophe 2023 und den offensichtlichen grassierenden Baumängeln versucht die AKP nun tunlichst ihrem Image der Freunderlwirtschaft rund um die „Gang of Five" etwas entgegenzusetzen. Mehrere Bauunternehmer wurden verhaftet, unter anderem medienwirksam vor Kameras bei dem Versuch das Land zu verlassen. Ob die AKP es schaffen wird das Narrativ zu kontrollieren, bleibt angesichts des Volkszorns aber fraglich.


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