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WAHLEN IM KRISENMODUS

Könnte wieder Präsident werden Wirtschaftskreise und Medien werben für José María Figueres als Krisenmanager (Foto: Larry Luxner, The Washington Diplomat via Flickr ( CC BY 2.0))

Am Ende der vierjährigen Amtszeit des sozialliberalen Präsidenten Carlos Alvarado befindet sich Costa Rica in einer schweren Mehrfachkrise. Harsche neoliberale Reformen, die Corona-Pandemie, die schwerste Wirtschaftskrise seit 40 Jahren, gesellschaftspolitische Polarisierung und zwei große Massenproteste (siehe LN 534 & 557) haben das Land erschüttert.

In dieser Krisensituation verstärkt sich der seit einigen Jahren zu beobachtende Vertrauensverlust in die Politik. In einer von der Universität von Costa Rica durchgeführten Umfrage gaben 25 Tage vor der Wahl 43 Prozent der Befragten an, noch nicht zu wissen, für wen sie stimmen werden. Das ist ein Rekordwert und bedeutet eine beinahe Verdopplung im Vergleich zu den letzten Wahlen 2018.

Seit vielen Jahren stagniert das Wirtschaftswachstum in Costa Rica, während die Staatsverschuldung ungebremst steigt. In dieser Situation traf die Corona-Rezession das Land hart und hat die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1980er-Jahren verursacht. Der Abbruch der internationalen Lieferketten und das Ausbleiben internationaler Tourist*innen haben Costa Rica schwer getroffen. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte 2020 um 5,6 Prozent. Die Staatsverschuldung zog dramatisch an und erreichte laut Internationalem Währungsfonds (IWF) im vergangenen Jahr 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - der dritthöchste Wert in Lateinamerika. Bis Ende 2020 verdoppelte sich die Arbeitslosenquote im Vergleich zum Vorjahr auf einen Rekordwert von 20 Prozent. Mittlerweile ist sie offiziell auf 14 Prozent gefallen, wobei es einen großen Anteil prekärer und informeller Arbeit im Land gibt.

So wundert es nicht, dass Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit die dominierenden Themen des Wahlkampfes gewesen sind. Mag der Ausgang der Wahlen noch kaum absehbar sein, so ermöglicht der Wahlkampf doch eine Prognose der zukünftigen Regierungspolitik. Fast unisono verkünden die Präsidentschaftskandidat*innen ihre Vorschläge zur Lösung der Krise: Bürokratieabbau, keine Steuererhöhungen, Kürzungen im Staatssektor und Stimulierung der Privatwirtschaft.

Insgesamt 25 Kandidat*innen treten zur Präsidentschaftswahl an. Realistische Chancen werden nur drei und mögliche Chancen zwei weiteren Kandidat*innen zugesprochen. Da Umfragen den Spitzenkandidat*innen maximal 20 Prozent voraussagen, gilt eine Stichwahl am 3. April als sicher. Diese sieht die Verfassung vor, wenn in der ersten Runde niemand 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann.

Bei den meisten Umfragen führt José María Figueres von der einst sozialdemokratischen, mittlerweile aber in fast allen Fragen rechts der Mitte stehenden Partido Liberación Nacional (PLN). Selbst Sohn des republikprägenden Präsidenten José Figueres Ferrer, war er bereits von 1994 bis 1998 Präsident Costa Ricas. Seine Regierung führte rigide neoliberale „Strukturanpassungsmaßnahmen" nach der Aufnahme eines Kredits bei der Weltbank durch. In der Vergangenheit sind Korruptionsvorwürfe gegen Figueres erhoben worden.

In den letzten Umfragen hat Lineth Saborío von der sozialchristlichen Partido Unidad Social Cristiana (PUSC) stark aufgeholt. Die einzige Frau unter den Spitzenkandidat*innen war von 2002 bis 2006 Vizepräsidentin. Hohe Umfragewerte genießt auch der evangelikale erzkonservative Prediger Fabricio Alvarado. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zog er überraschend mit den meisten Stimmen in die Stichwahl ein, unterlag dann dem sozialliberalen Gegenkandidaten und heutigen Präsidenten Carlos Alvarado aber deutlich. Kurz nach der Wahl trat er wegen Korruptionsvorwürfen aus der evangelikalen Sammlungspartei aus und gründete die rechtskonservative Partido Nueva República (PNR).

Weniger aussichtsreich sind die Kandidaturen des Sozialisten José María Villalta und des sozialliberalen ehemaligen Finanzministers Rodrigo Chaves. Keine Umfrage hat ihnen bislang einen Einzug in die Stichwahl prognostiziert - ein Überraschungserfolg scheint jedoch nicht ausgeschlossen.

Sicher ist schon jetzt der Niedergang der progressiven Partido Acción Ciudadana (PAC) des amtierenden Präsidenten. Da die costa-ricanische Verfassung eine unmittelbare Wiederwahl verbietet, kann Alvarado im Februar nicht zur Wahl antreten. Mit historisch schlechten Zustimmungs- werten von zuletzt 15 Prozent hätte er ohnehin keine Chance. Welmer Ramos, der blasse Kandidat der PAC, wurde aufgrund miserabler Umfragewerte zuletzt nur noch unter „Sonstige" geführt. Beobachter*innen halten es für möglich, dass die PAC im zukünftigen Parlament nur noch mit einem von 57 Abgeordneten vertreten sein könnte - statt wie bisher mit zehn.

Die PAC wurde 2000 von Politiker*innen des linken Flügels der PLN gegründet, die den neoliberalen Kurs der Partei nicht mehr mittragen wollten. Ihr Kandidat Luis Guillermo Solís gewann die Wahlen 2014 mit einem Erdrutschsieg, wodurch die PAC erstmalig den Präsidenten stellte und das tradierte Zweiparteiensystem beendete. Über Jahrzehnte hatten sich zuvor stets die PLN und die PUSC in der Regierung abgewechselt.

Schon die Amtszeit von Solís enttäuschte jedoch die hohen Erwartungen an die PAC. Statt durch einen Aufbruch war die Amtszeit von weitgehender Kontinuität geprägt. Gleichzeitig wurde während seiner Amtszeit mit dem cementazo der größte Korruptionsskandal der jungen Vergangenheit Costa Ricas aufgedeckt, in den auch Politiker*innen der PAC involviert waren. Für die Wahl 2018 sah es so aus, als würde der Präsidentschaftskandidat der PAC, Carlos Alvarado, nicht einmal in die Stichwahl einziehen.

Doch dann stellte im Januar 2018 ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) den Wahlkampf auf den Kopf. Das Gericht urteilte, dass Costa Rica die gleichgeschlechtliche Ehe legalisieren müsse. Unerwartet zogen daraufhin Carlos Alvarado als dezidiertester Befürworter des Urteils und der homofeindliche Evangelikale Fabricio Alvarado in die Stichwahl ein. Mit 60 Prozent der Stimmen gewann Carlos Alvarado deutlich (siehe LN 526).

Die Präsidentschaft Alvarados stand von Beginn an unter schlechten Vorzeichen. Die PAC stellte nur die drittgrößte Fraktion im Parlament, die Stimmung war polarisiert und die wirtschaftliche Situation immer angespannter. In dieser Lage verschärfte Alvarado den progressiv-neoliberalen Kurs seines Vorgängers. 2018 beschloss die Regierung Kürzungen im öffentlichen Dienst und Steuererhöhungen. Darauf reagierten die Gewerkschaften mit dem längsten Streik der jüngeren Geschichte Costa Ricas, was die Regierung mit Einschränkungen des Streikrechts beantwortete.

2020 brach dann die Pandemie über das Land herein. Die Regierung wurde für ihr schnelles und dezidiertes Handeln zunächst international gelobt. Durch den Einbruch der Wirtschaftsleistung sah sie sich jedoch genötigt, die Maßnahmen früh zu lockern. Anfang 2021 stimmte die Regierung dann der Aufnahme eines IWF-Kredites in Höhe von knapp 1,8 Milliarden US-Dollar zu. Mit dem Geld sollte der Staatshaushalt stabilisiert und die Wirtschaft stimuliert werden. Mit der Aufnahme des Kredits verpflichtete sich die Regierung dazu, bis 2023 einen Haushaltsüberschuss zu erwirtschaften, der vor allem über Einsparungen im öffentlichen Sektor, Steuererhöhungen und Verwaltungsreformen erzielt werden soll. Gegen dieses Vorhaben brachen im ganzen Land Massenproteste aus, die monatelang anhielten.

Gleichzeitig hat die Regierung Alvarado einige wichtige gesellschaftspolitische Reformen beschlossen, etwa die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Erneuerung der Abtreibungsgesetzgebung. Diese Reformen hatten jedoch keine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich. Praktisch hat die PAC unter Alvarado gesellschaftspolitisch gegen die Mehrheit der Bevölkerung und wirtschaftspolitisch gegen die Mehrheit ihrer früheren Anhänger*innen regiert.

In dieser Gemengelage wird der Ausgang der jetzigen Wahlen mit großer Spannung erwartet. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen sind hierbei noch schwerer vorherzusagen als die der Präsidentschaftswahlen. Bei Letzteren werden sich am Ende möglicherweise nicht diejenigen durchsetzen, die am meisten Zustimmung genießen, sondern jene, die am wenigsten Ablehnung erfahren.

Wie schon 2018 könnte der rechtskonservative Kandidat Fabricio Alvarado in die Stichwahl einziehen. Dass im April aber mehr Menschen für ihn stimmen werden als in der polarisierten Situation 2018, ist unwahrscheinlich. Zwar machen die Evangelikalen in Costa Rica mittlerweile um die 20 Prozent der Bevölkerung aus - mit steigender Tendenz. Aber selbst konservative Katholik*innen halten ihn für einen Extremisten.

Teile des medialen und wirtschaftlichen Establis­h­­­ments machen bereits Stimmung für José María Figueres und werben für ihn als Krisenmanager. Und wie bei allen Wahlen seit 2006 dürfte die PLN wohl als stärkste Kraft ins Parlament einziehen. Sie hat nach wie vor eine große Stammwähler*innenschaft und verfügt über einen funktionsfähigen Parteiapparat. Keine Partei ist jedoch so unbeliebt wie die PLN. Und unter den Kandidat*innen steht niemand mehr für das Establishment und das alte Zweiparteiensystem als der ehemalige Präsident Figueres.

Sollte Lineth Saborío die Stichwahl erreichen, könnte die öffentliche Ablehnung von Figueres und Alvarado für sie sprechen. Zwar gilt auch die PUSC als korrupte Repräsentantin der Vergangenheit, sie ist jedoch bei Weitem nicht so verhasst wie die PLN.

Wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnen mag, das Regieren dürfte in der kommenden Legislaturperiode noch schwieriger werden. Zu erwarten ist, dass noch mehr Parteien ins Parlament einziehen als bisher, was es noch schwieriger machen wird, parlamentarische Mehrheiten zu finden.

Die Wirtschaftsprobleme und die soziale Ungleichheit im Land werden kaum innerhalb von vier Jahren behoben werden. Die Weltbank zählt Costa Rica mittlerweile zu den 20 Ländern mit der größten Ungleichheit der Einkommensverteilung. Die drohenden neoliberalen Reformen dürften diesen Zustand noch verschärfen und könnten in der fragilen Situation weiteren Sprengstoff bedeuten. Iván Molina, Professor für Geschichte an der Universität von Costa Rica, vergleicht die momentane Situation im Land mit der Chiles vor den Protesten im Jahr 2019. Er schreibt gar von einer „Demokratie am Abgrund". Eine beunruhigende Diagnose für die älteste durchgängige Demokratie Lateinamerikas.

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