TAG 1 – LEIPZIG
Wenn man zehn Stunden von Wien nach Leipzig fährt, wobei man eineinhalb Stunden in Tschechien im Stau steht, müffelt man ein wenig. Dann wünscht man sich nichts sehnlicher als einen Backstage-Raum, wo man sich ein frisches Hemd anziehen und etwas Ruhe finden kann. Wenn man bei der Ankunft bemerkt, dass es keinen Backstage-Raum gibt, sondern nur einen abgesperrten Bereich, den man sich mit anderen Künstlern teilen muss, ist die Freude nicht gerade groß. Dann öffnet man am besten so schnell wie möglich die erste Flasche Wein.
Am Abend des 11. Juni 2015 sitzt Marco Michael Wanda, 28-jähriger Sänger der Wiener Rockband Wanda, nach der zehnstündigen Autofahrt vor der Mensa des Campus Jahnallee und tut das, was er immer tut: Er raucht. Die Flasche Wein hat er schon halb ausgetrunken.
Auf der Bühne turnen gerade noch Keule herum, zwei Spaßvögel mit Gitarre und Ukulele. „Dick sein ist fett", singen die beiden. „Und Bulimie ist echt zum Kotzen". Das studentische Publikum ist angetan. Wanda-Schlagzeuger Lukas Hasitschka schaut kurz zu und schüttelt den Kopf. „Der Veranstalter hat uns 12 000 Leute angekündigt", sagt er. „Wir haben uns ‚Rock am Ring' vorgestellt."
Rock am Ring this is not. Dennoch könnten die meisten jungen Bands ihr Glück nicht fassen, fernab der Heimat, als Headliner bei einem Open Air vor mehreren hundert Zuschauern zu spielen. Doch bei Wanda handelt es sich um keine gewöhnliche Band. Wanda - benannt nach der legendären Wiener Zuhälterin Wanda Kuchwalek - sind ein Phänomen.
Innerhalb eines Jahres schafften sie den Sprung vom österreichischen Mini-Label Problembär Records zum deutschen Major Universal. Vom Wiener Kellerlokal auf den rappelvollen Michaelerplatz vor der Hofburg. Aus dem Underground in den Pop-Himmel. Wenn im Oktober - nur ein Jahr nach dem Debütalbum "Amore" - die zweite Platte "Busse" erscheint, sind höchste Chartplatzierungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu erwarten.
Niemand war auf einen so schnellen Erfolg vorbereitet. Naiv nahm die Band jeden Auftritt an, der ihr angeboten wurde, spielte bei jedem Gartenfest, in jeder Dorfdisko, oft für dreistellige Gagen. „Wanda hat vor, sich leidenschaftlich ins Grab zu spielen", war noch im März auf ihrer Facebook-Seite zu lesen. „Das würden wir heute nicht mehr sagen", gibt Lukas zu. „Du schläfst in billigen Hotels, in Milben-verseuchten Betten. Es ist echt hart."
Doch es gibt kein Zurück. Die Termine sind fixiert, Verträge wurden unterschrieben. Wanda sind gefangen in einem mörderischen Tourplan, einem Zick-Zack-Kurs quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Die kommenden drei Tage führen von Leipzig nach Bielefeld und dann weiter nach Bayern - das alles in einem Opel Vivaro, der gerade genug Platz für die Band, ihr Equipment und Sound-Techniker Dominik Sommer bietet.
Oktober, sagen alle. Im Oktober soll alles besser werden. Dann wird sich eine professionelle Agentur um das Booking kümmern. Dann bekommen Wanda einen Nightliner. Roadies. Angemessene Gagen. Aber bis dahin heißt es, Zähne zusammenbeißen.
Wie im Schlaf schleppen die Musiker ihre Instrumente auf die Bühne. Ein altbekanntes Prozedere. Keine Spur von Lampenfieber. Der Soundcheck wird vor den Augen des Publikums erledigt. Anders geht es nicht, wenn zwischen Ankunft und Auftritt keine Stunde liegt.
Marco schlurft vorbei, die Flasche Wein im Anschlag. „Prost", sagt er - und verharrt. „Scheiße! Keine Tschick." So kann man kein Konzert spielen. Er dreht um. Zwei Minuten später taucht er mit Zigarette im Mund wieder auf. „Hat mich nur ein Foto gekostet", sagt er triumphierend.
Auf den ersten Blick wirkt dieser Mann ziemlich unscheinbar. Er sieht aus wie ein verlotterter Prinz. Seine Haare sind zerrupft. Knochige Knie lugen aus Löchern in seinen Jeans. Die alte Raulederjacke, vor Jahren für fünf Euro auf einem Berliner Flohmarkt erstanden, hat schon bessere Tage erlebt. Doch dann schlägt Lukas auf die Snare, und Marco verwandelt sich mit einem Schrei.
Ein Wanda-Konzert, sagt er, sei ein Balzritual. Und wirklich: Wenn man es schafft, den Blick von der Bühne abzuwenden, kann man dabei zuschauen, wie das Publikum der Band verfällt. Dem leichtfüßigen Bassisten Reinhold „Ray“ Weber, dem dauergrinsenden Schlagzeuger Lukas, Christian Hummer, dem Beau am Keyboard und dem nicht weniger feschen, herrlich kaputt aussehenden Gitarristen Manuel Christoph Poppe.
Vor allem aber natürlich Marco, diesem Strizzi, der vorne seine Späßchen treibt, herumwirbelt, hinfällt, aufspringt, lacht, leidet und die Lenden kreisen lässt, als wolle er mit einer unsichtbaren Geliebten Amore machen. Wenn er zum Publikum spricht, dann dehnt er die Worte, die Zwielaute verschwimmen zu einem Vokal. Was für Implikationen das mit sich bringt! Meint er das, was er sagt, ernst? Ist er arrogant? Ist er charmant? Oder beides?
Die Leipziger grinsen. Sie grinsen, wie man grinst, wenn einem jemand an der Bar ein besonders schönes Kompliment macht, und man plötzlich merkt, dass man große Lust hätte, mit ihm zu schlafen. Beim zweiten Song, „Kairo Downtown“, werden die Blicke tiefer, beim vierten, „Bleib wo du warst“, wird schon geknutscht im Publikum. „Schickt mir die Post“, „Auseinandergehen ist schwer“. Man ist endlich in der heimischen Garçonnière angekommen, schält sich gegenseitig aus den Lederjacken, fällt aufs Bett. „Ich will Schnaps“, ein wildes Vorspiel. Hinausgezögerte Ekstase. Und dann wird gevögelt. „Wenn jemand fragt, wohin du gehst, sag nach Bologna!“ Der Höhepunkt, ein lustvolles Sterben.
Danach liegt man zufrieden da. Starrt an die Decke. Raucht sich eine an. Lächelt. Die Hände wandern schon wieder zum andern hinüber. Es ist noch nicht vorbei. „Easy Baby“. Man fällt ein zweites Mal übereinander her. „Ans, zwa, drei, vier, es ist so schön bei dir“. Guter Sex muss nicht geistreich sein. „Fünf, sechs, sieben, acht, ich bleib’ die ganze Nacht“ – die allabendliche Lüge, bevor sich die Band davonstiehlt. „Wir sehen uns wieder!“, verspricht Marco und wirft ein Küsschen ins Publikum. Die Leute schauen ihm lange nach.
TAG 2 – LEIPZIG/BIELEFELD
Lukas ist besorgt. „Wenn uns jemand erwischt, sind wir g’fickt“, warnt er. „Geh’ bitte, uns erwischt niemand“, beruhigt ihn Marco. Wir streifen durch die Auen des Cospudener Sees im Süden Leipzigs. Marco möchte fischen. Eine Erlaubnis haben wir dafür nicht. Egal. Wir werden vorsichtig sein.
„Da drüben ist es perfekt“, ruft Marco und schreitet voran. In einer ruhigen Bucht lassen wir uns nieder. Tennisballgroße Libellen fliegen durch die Luft. Frösche quaken. In der Ferne macht eine nackte Frau mit gewaltigen Brüsten einen Kopfstand. Marco zieht sein Shirt aus und krempelt die Hose hoch. Als er fünf war, hat ihm sein Vater das Fischen beigebracht. „Ich glaube, ich hab’ eine Form von ADHS“, erklärt er. „Beim Fischen kann ich mich auf eine Sache konzentrieren.“
Er präpariert die Angel, eine Spinnrute. Damit fängt man Raubfische. Marco hat sie gestern erst gekauft. Auch deshalb hat die Fahrt nach Leipzig so lange gedauert. „Wir haben eine Dreiviertelstunde im Geschäft gustiert“, erzählt Dominik, ein tiefenentspannter Mann, der sich von seiner Dreifachbelastung als Tourmanager, Sound-Techniker und Busfahrer nicht aus der Ruhe bringen lässt. „Du kannst dir vorstellen, wie begeistert die anderen waren.“
Allzu begeistert wirken sie auch jetzt nicht. Am Abend sollen sie beim „1LIVE“-Festival in Bielefeld spielen. Zwischen See und dort liegen gut 350 Kilometer auf der Autobahn. Marco stört das nicht. Er stakst in den See. In hohem Bogen wirft er die Angel aus. Bleich wie ein Vampir steht er da, die Zigarette im Mundwinkel. Ein Fischer namens Wanda.
Die Anderen warten geduldig am Ufer. Wie sie da sitzen, in Jeans und Lederjacken, sehen sie aus wie eine Motorrad-Gang. Ray ist ein naturcooler Hund mit kreisrunder Sonnenbrille. Vor zwei Jahren wurde er rekrutiert, weil er sein Instrument spielen und gleichzeitig rauchen konnte. Eine Voraussetzung für einen Job bei Wanda.
Manuel begleitet Marco bereits seit zehn Jahren. Die beiden haben in Rock- und Funkbands gespielt, Verschiedenes ausprobiert. Manuel weiß mehr über Rainhard Fendrich als für irgendeinen Menschen gut sein kann. Er hat Marcos Potenzial als Liederschreiber früh erkannt. „Mach einfach, du führst uns schon irgendwo hin“, soll er einmal zu ihm gesagt haben.
Christian ist mit 24 Jahren der Jüngste der Band. Sein kantiges Gesicht und sein scharfer Blick lassen ihn bedrohlich aussehen. Tatsächlich ist er aber ein sehr sanfter Zeitgenosse. Eines Tages stand Marco mit acht Dosen Bier in seiner Wohnung und hat ihm Songs auf der Gitarre vorgespielt. Beim Georg-Danzer-Hören lernten die beiden einander besser kennen. Später zogen sie mit Akustikgitarren als singendes Duo durch Wien und traten auf, wo immer man sie ließ: in Cafés, in der U-Bahn, sogar in der Kirche. Das war vor drei Jahren. Wäre der Erfolg mit Wanda nicht über ihn hereingebrochen, hätte sich Christian wohl einen Beruf gesucht, der dem geregelten Leben zuträglicher ist, als der eines fahrenden Musikers, sagt er.
Einen solchen Job hatte Lukas, den sie Hasi nennen, schon. Nach seinem Jazz-Studium am Gustav-Mahler-Konservatorium in Wien gründete er ein Unternehmen für Sound-Design. Einer seiner Kollegen war Produzent Paul Gallister, Marcos Freund und Mentor. „Marco saß immer in Pauls Küche“, erinnert sich Lukas. „Er hat Kaffee getrunken und geraucht. Seine Art zu reden, seine Art zu leben – das hat mir sehr gefallen.“
Auch Marcos Lieder gefielen Lukas. Trotzdem dauerte es, bis er sich auf Wanda einließ. „Oft kam ich allein zu Proben, weil mir keiner ausgerichtet hatte, dass alle anderen im Wirtshaus sitzen“, erklärt er. „Aber die Musik hat mich nie losgelassen. Zum Glück haben wir uns dann alle zusammengerissen.“
Aufregung im See. Etwas hat angebissen. Etwas Schweres! Marco holt die Angel ein. Am Haken baumelt eine Alge. „Ich glaube, wir lassen’s für heute gut sein“, sagt er und tritt den Rückweg an.
Ein wenig später spazieren wir zum Nordstrand. Die Anderen wollen schwimmen gehen. Ich frage Marco, ob wir die Zeit für ein Interview nutzen können. Er ist einverstanden. Die Strandbar ist nicht weit. Wir setzen uns an einen Tisch. Im Hintergrund dudelt Strandmusik.
Wie fühlt es sich an, ununterbrochen auf Tour zu sein?
Ich kann nicht mehr zwischen Tour- und Privatleben differenzieren – aber das finde ich sehr angenehm. Früher habe ich verzweifelt versucht, ein Leben auf die Beine zu stellen. Das ist mir nie gelungen. Ich habe das Gefühl, ich lebe überhaupt erst seit ein paar Monaten.
Du wirkst wie jemand, der gefunden hat, wonach er lange gesucht hat.
Genau, jetzt ergibt alles Sinn. Ich hab’ immer gewusst, ich werde irgendetwas machen, das besonders ist. In der Schule haben sie mich ausgelacht. „Ich geh’ nach Hause.“ – „Warum gehst du nach Hause?“ – „Ich muss nix lernen. Ich werd’ berühmt!“ Das hat mir natürlich nie einer geglaubt. (Lacht)
Kannst du dich daran erinnern, wie das war, als du dein erstes Lied geschrieben hast? Wie alt warst du?
Mit sechs Jahren habe ich ein Lied geschrieben. Das hieß „Ich kotze“. Bei meinem ersten Klavierkonzert habe ich vor geistig Behinderten gespielt. Ich habe auf die Tasten gedroschen, mir den Finger in den Mund gesteckt und versucht, zu kotzen. Das Publikum ist ziemlich darauf abgefahren.
Wie kam es denn zu diesem Auftritt?
Meine Mutter war Musiktherapeutin. Deswegen bin ich auch in einen Behinderten-Kindergarten gegangen. Da waren nur behinderte Kinder und ich. Oder, besser: Nur behinderte Kinder. (Lacht)
Später hast du an der Universität für angewandte Kunst in Wien Sprachkunst studiert.
Während dieser Zeit habe ich mich mehr mit meiner Musik als mit Literatur beschäftigt. Nur die Technik der Écriture automatique habe ich angewendet: halluzinogene Drogen nehmen, abschalten und schreiben. Ich war immer ein großer Fan davon, mit dem Bewusstsein an die Grenze zur vollkommenen Auflösung von allen Gesetzen zu gehen. Das muss man nicht regelmäßig tun. Aber es ist sicher nicht schlecht, einmal erledigt gewesen zu sein. Sein Hirn so zermartert zu haben, bis nur noch Scheiße rauskommt. Erst dann kann man einen ganz einfachen Satz niederschreiben.
Schreibst du auf diese Weise auch Lieder?
Ja. Ich hab das Über-die-Grenzen-Gehen halt schon hinter mir. Ich schreibe für meine Begriffe jetzt nur wahre Sätze…
… die aber mit dir persönlich nichts zu tun haben.
Das ist das Schöne. Ich glaube, dass da etwas durch mich spricht. Etwas Uraltes. So wie C. G. Jung das sagt: Durch uns spricht das unbewusste Material von 8 000 Generationen.
Warum willst du nicht über dich selbst schreiben?
Es gibt so viele Musiker, die uns mit ihrer Geschichte quälen. Das will ich nicht. Ich will mich selbst dem Publikum ersparen. Ich bin nur ein weiterer langweiliger Vollidiot. Niemand hat verdient, dass ich Befindlichkeitslyrik schreibe.
Von hinten pirschen sich Dominik und die Band an. Sie sehen erfrischt aus. Jetzt bekommt auch Marco Lust in den See zu springen. Doch Dominik hat schlechte Nachrichten.
„Wir müssen weiter“, sagt er.
„Wann?“
Dominik sieht auf die Uhr. „Genau jetzt.“
Es ist 23 Uhr, als die Band auf die Bühne des kleinen Bielefelder Clubs „Movie“ geht. Lukas hängt seine Jacke ans Drumkit, wie ein Mann, der seinen Trenchcoat am Kleiderhaken lässt, bevor er sich hinter den Schreibtisch setzt. „Ich glaub’, das wird lustig“, sagt Marco. Die Leute glauben das auch. Die Snare. Der Schrei. „Luzia“.
Ray tänzelt. Christian stampft. Linkes Bein, rechtes Bein. Mehr Bewegung geht nicht. Das Los des Keyboarders. Obwohl wenig Platz ist, führt Marco die üblichen Kunststücke auf. Er hüpft herum wie Rumpelstilzchen, misst die Bühne mit den Armen aus.
Innerhalb weniger Minuten ist jeder im Raum nassgeschwitzt. „Scheiße, dass wir uns nicht schon vorher kannten“, flirtet der Sänger mit dem Publikum. Aus der ersten Reihe reicht ihm jemand einen Kurzen. Vorauseilender Gehorsam, weil man ja weiß, wonach Marco gleich lechzen wird.
„Bologna“ beginnt mit hymnischen Pianoakkorden. Und dann passiert etwas. Während die Bielefelder grölen, dass sie mit ihren Cousinen schlafen wollen, wird Marco schwindlig. Ein Schmerz fährt ihm durch den Kopf. Die Folgen der Leipziger Mittagssonne. Irgendwie rettet sich Marco durch das Set. Danach lässt er sich neben der Bühne auf den Boden fallen.
Feuerzeug, Zigarette, ein paar hektische Züge. Der Applaus klingt nicht ab. Wanda müssen noch mal zurück. Sie spielen drei Zugaben. Sie spielen, als ginge es ums Überleben. Dann stolpern sie davon. Im Vorbeigehen umarmt mich Marco und drückt mir ein Bussi auf die Wange. „A Wahnsinn“, sagt er und lacht. Dann ist er weg.
Zehn Minuten später. Im Backstage-Bereich ist Marco auf die Couch gesunken. Lukas redet beruhigend auf ihn ein.
„Niemand kann uns sagen, was wir tun sollen“, sagt er.
„Wir können nicht den ganzen Sommer in diesem kleinen Bus herumfahren“, antwortet Marco.
„Wenn du willst, sagen wie ein paar Gigs ab. Das ist deine Entscheidung.“
„Das ist nicht nur meine Entscheidung… scheiße, in meinem Kopf knallt’s, als würden Murmeln aneinanderstoßen.“
Eine Mitarbeiterin des Festivals nähert sich mit besorgtem Blick. „Junger Mann, was kann ich für Sie tun?“, fragt sie Marco.
„Erschieß’ mich“, sagt er.
Hasi: „Exekution, das wär’ fein.“
Marco: „Durch acht Franzosen, die nicht schießen können.“
Die Festival-Mitarbeiterin wirkt beruhigt. Wer noch scherzen kann, denkt bestimmt nicht ernsthaft ans Sterben. Wahrscheinlich ist die gute Frau noch nie in Wien gewesen.
TAG 3 – KIRCHANSCHÖRING
Es ist kurz vor 21 Uhr. Marco und Lukas sind noch im Hotelzimmer. Sie haben sich gestern früh zurückgezogen. Der Rest der Band ging auf einen Absacker oder zwei in die Großraumdiskos Bielefelds. Jetzt stehen Manuel, Christian und Ray in einem Allzweck-Zelt hinter der Bühne und nippen müde an ihrem ersten Bier. Sie erzählen mir von den Anfangstagen der Band. Ihre Aussagen bekräftigen sie gerne mit einem abschließenden „Voll“.
Ray: Das erste Wanda-Konzert war im Oktober 2012. Schon da haben alle Leute mitgesungen und getanzt. Da wusste ich: Das Ding wird noch fetter, als ich je gedacht hätte. Voll.
Christian: Noch fetter war aber das Nirvana- Konzert, das wir gespielt haben.
Manuel: Voll. Am 5. April 2014, zum Todestag von Kurt Cobain.
Manuel drängt sich an Ray vorbei zu mir. Wenn es ihm wichtig ist, will er nahe bei seinem Gesprächspartner stehen – und wenige Dinge sind ihm wichtiger als Nirvana.
Manuel: Die Setlist war: „Negative Creep“, „Stain“, „Love Buzz“, „Lithium“ und „Serve The Servants“. Es war Wahnsinn. An dem Abend waren wir Nirvana.
Marco betritt das Zelt. Er nickt uns zu und setzt sich auf eine Couch.
Christian: Nach unserm Cover-Set haben die Leute „Wanda! Wanda! Wanda!“ gerufen. Es war eigentlich verboten, eigene Songs zu spielen – aber wir mussten.
Ray: Das war unser Durchbruch.
Manuel: Voll.
Plötzlich lässt sich Marco auf die Knie fallen, kriecht auf allen Vieren durch den Raum und bellt. Am Büfett-Tisch hat er eine Flasche Wein aufgespürt. Er schnappt sie sich und kehrt zur Couch zurück.
Wenn man acht Stunden von Bielefeld nach Kirchanschöring gefahren ist, wobei man sich in Leipzig am Tag davor einen Sonnenstich zugezogen hat, dann öffnet man am besten so schnell wie möglich eine Flasche Wein.
Ich frage Marco, ob er sich besser fühlt. „Jetzt geht’s schon wieder“, sagt er. Seine Augen wirken immer noch ein bisschen verschleiert. „Aber gestern habe ich zum ersten Mal gedacht, wenn das so weiter geht, dann stirbt einer.“
Manuel versucht eine Frau mit geweiteten Pupillen abzuwehren, die ihn lallend fragt, mit wie vielen „n“ Wanda geschrieben wird. Draußen donnert es.
„Das Problem ist, dass wir keine Ruhe bekommen“, sagt Marco. „Wenn man in so einem halb befestigten Backstage-Raum sitzt, kommen dauernd Leute auf einen zu. Alle wollen ihre Euphorie mit uns teilen, mit uns feiern. Alle glauben, dass wir immer nur saufen.“
Es donnert. Die Lichter gehen aus. Stromausfall.
Von draußen hört man das Publikum johlen. Auf der Bühne laufen Menschen hin und her. Im dunklen Backstage-Zelt steht Lukas und schaut hinaus auf den Regen. „Wenn sie den Auftritt jetzt absagen, bringt uns das auch nix“, sagt er. „Was so an uns zehrt, ist ja nicht das Spielen, sondern die Anreise.“
Die Zuschauer weichen nicht von der Bühne zurück. Zu zweit und dritt suchen sie unter Jacken Schutz vor dem Regen. Veranstalter Günther Wimmer diskutiert mit einem Feuerschutzbeauftragen. Ein Blick auf die Uhr. Nicken. Dann richtet er sich ans Publikum.
„Es geht weiter.“ Jubel.
„Die letzte Band werden wir absagen müssen. Aber Wanda ziehen wir durch!“
Mehr Jubel. Wimmer zeigt in die Nacht. „Da hinten sind die Fluchtmöglichkeiten.“ Nicht für Wanda. Die Band steht schon wieder auf der Bühne. Nur 20 Minuten soll das Konzert dauern. Aus Sicherheitsgründen. Marco verteilt seinen wertvollen Zigarettenvorrat an die erste Reihe. Der Soundcheck zieht sich. Ein paar Ungeduldige beginnen, Becher zu werfen. Dann reicht es auch Marco. „Dominik, scheiß drauf!“, ruft er dem Sound- Techniker zu. „Heeey!“ Ein Schrei, der durch Mark und Knochen geht. „Luzia“.
Die erste Reihe explodiert. Die Fans steigern sich so sehr in die Texte, dass ihre Gesichter leidende Züge annehmen. „Am Ende seines Lebens wird ein jeder einsam sein.“
Die Organisatoren werfen einander fragende Blicke zu. Kurz fürchtet man, dass der Sänger nicht mehr aufsteht. Dann kämpft er sich doch wieder hoch. Wenn’st von allein stehst, kannst’ von allein geh’n. Irrtum!
„‚Ans, zwa, drei, vier!‘“, skandieren die Fans. Ein bislang unveröffentlichter Song. Wie selbstverständlich fordern ihn die Leute ein – und Wanda geben den Leuten, was sie wollen. Sie geben alles. Am Ende stehen sie minutenlang am Rand der Bühne und lassen sich feiern.
„Wir spielen jeden Tag im Jahr. Wir sehen uns wieder“, schreit Marco. Vielleicht wollen sie sich wirklich ins Grab spielen. Leidenschaft heißt Leiden. Wanda meinen es todernst. Wahrscheinlich sind sie die letzte wichtige Rock’n’Roll-Band unserer Generation.
Voll.