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"Ist ein Hund weniger wert als ein Baby?"

Der Philosoph Peter Singer findet, dass alle Spezies gleichberechtigt sind

Sie verzichten auf tierische Produkte und kämpfen für Tierrechte: Veganer. Jöran Fliege ist einer von ihnen. Dass diese Lebensweise seiner Gesundheit schaden kann, ist ihm egal.


Tiere sind zum Essen da, valerie und valera!", skandieren die Demonstranten. "Fleisch für alle, sonst gibt's Krawalle!" Gut 20 Menschen haben sich vor dem International Congress Centrum (ICC) in Berlin versammelt. Drinnen findet das Seminar "Frische Forum Fleisch" statt, eine Lobbyveranstaltung der Fleisch-Branche. Draußen demonstrieren die Leute. Doch ihre Rufe und Plakate - "Esst Veganer", "Mehr Massentierhaltung und mehr Massenfleisch" - sind ironisch gemeint.


Jöran Fliege ist Mitglied von Berlin-Vegan. Die Gruppe besteht aus etwa 30 Mitgliedern und setzt sich für Veganismus als "Notwendigkeit einer zivilisierten Gesellschaft" ein, wie es auf der Webseite heißt. Dort wurde auch die ironische Pro-Fleisch-Demo vor dem ICC angekündigt. "Es geht darum, das Thema einmal von einer andern Seite zu betrachten", erklärt Fliege. "Oft fühlen sich Leute ja angegriffen, wenn man versucht, sie von den negativen Seiten des Fleischessens zu überzeugen. Dabei finden viele die Argumente richtig, haben aber ihr Leben einfach noch nicht umgestellt."


Laut einer Studie der Universitäten Göttingen und Hohenheim leben in Deutschland heute an die 400.000 Veganer: Menschen, die auf jegliche tierische Produkte verzichten. Dazu gehören Fisch, Fleisch, Milch, Eier, aber auch Möbel, Bekleidung und Kosmetikartikel, die aus tierischen Erzeugnissen hergestellt werden. Jöran Fliege ist überzeugt, dass der Trend zum Veganismus anhalten wird. "Vor allem in den Städten, unter Studenten wächst die Zahl der Veganer rapide", sagt er.


Der 27-jährige Art Director lebt selbst bereits seit 2006 vegan. Davor dachte er nicht viel über Ernährung nach: Wenn er nach der Arbeit heimkam, wärmte er sich tiefgekühlte Hähnchenkeulen oder andere Fertiggerichte auf. "Irgendwann kam bei mir der Punkt, an dem ich mich informiert habe", erzählt Fliege. "Es gibt Dinge, von denen ich gar nichts wusste: dass Masthähnchen die Schnäbel abgeschnitten werden, dass Schweinen einfach die Hoden abgetrennt werden. Je mehr ich erfahren haben, desto mehr verstärkte das meinen Entschluss, das Fleischessen zu lassen."


Doch das war dem Berliner nicht genug: Er wurde aktiv und begann, ehrenamtlich für Berlin-Vegan zu arbeiten. Die Gruppe organisiert Stammtischtreffen und setzt sich für Tierrechte ein. Sie will die Haltungsbedingungen von Tieren nicht verbessern, sondern Tierhaltung gleich ganz abschaffen. "Tiere haben ein Recht auf freies Leben", sagt Fliege. Um zu zeigen, wie ernst es ihm ist, hat er sich auf seine Finger das Wort "Veganism" stechen lassen.


Für Veganer ist die Ausbeutung von Tieren vergleichbar mit der Ausbeutung von Menschen. 1970 fand der britische Psychologe Richard Ryder den Begriff des Speziesismus, der in Anlehnung an Rassismus und Sexismus die Ungleichbehandlung von Tier und Mensch bezeichnet. Der australische Philosoph Peter Singer leitete daraus das Gleichheitsprinzip ab: Genauso wie alle Rassen und Geschlechter gleichberechtigt seien, dürften wir unsere Spezies nicht über eine andere stellen. Denn der Mensch sei letztlich nichts anderes als ein Tier. Fliege erklärt es so: "Das ist wie dieses alte Beispiel: Es brennt ein Haus. Da ist ein Kind drinnen und ein Hund. Wen soll man retten? Das lässt sich nicht befriedigend beantworten, denn die grundsätzliche Frage ist: Was sollte dagegen sprechen, den Hund zu retten? Warum hat er es weniger verdient, zu leben?"


Fliege glaubt, dass sich der Veganismus auf lange Sicht in der Gesellschaft durchsetzen wird. Jede große Supermarktkette hat heute vegane Produkte im Sortiment. In den Städten florieren Veggie-Restaurants. Wer auf Fleisch verzichtet, wird nicht verhungern müssen - könnte aber seiner Gesundheit schaden: In einer Studie litten 83 Prozent der Veganer an fortgeschrittenem Vitamin-B12-Mangel. Das Vitamin ist zur Bildung roter Blutkörperchen nötig. Bei der Vergleichsgruppe, die auch Fleisch verzehrte, hatten dagegen nur 15 Prozent der Teilnehmer zu wenig B12 im Körper.


Isabelle Keller von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Bonn warnt: "Man braucht umfangreiches Ernährungswissen, damit es nicht zu Mangelerscheinungen kommt." Besonders schwierig sei es, den Bedarf an Eiweißen, Vitamin B12, Eisen, Calcium und Jod aus rein pflanzlicher Kost zu decken. Vitamin B12 könne ausschließlich über tierische Lebensmittel aufgenommen werden. Bei Kindern kann ein B12-Mangel zu irreversiblen Schäden im Nervensystem führen. Ihnen rät Keller daher ebenso von der veganen Ernährung ab, wie Frauen, die schwanger sind oder stillen. Sie betont aber auch, dass es nicht gesund sei, sehr viel Fleisch zu essen. "Eine vegane Ernährung hat auch Vorteile: Wer viel Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Kartoffeln zu sich nimmt, ist zumindest mit Ballaststoffen und bestimmten Vitaminen sehr gut versorgt. Andere wichtige Nährstoffe fehlen dafür", sagt die Ernährungswissenschaftlerin.


Mareike Rot hat am eigenen Leib erfahren, wozu einseitige Ernährung führen kann: Die 25-jährige Hamburgerin lebte zweieinhalb Jahre als Veganerin. Zunächst ging es gut. Doch dann bekam sie gesundheitliche Probleme: "Ich war immer erkältet, immer müde und kaputt, und konnte mich kaum noch konzentrieren", sagt sie. Ihre Ärztin stellte daraufhin unter anderem Eisenmangel und Blutarmut fest. "Für mich war dann klar, dass ich meine Ernährung umstellen muss, weil ich auch mit Zusatzpräparaten nicht wieder alles aufbauen konnte, was mein Körper braucht", sagt Mareike. Mittlerweile geht es ihr wieder besser. Heute ernährt sie sich vegetarisch, auf Fleisch verzichtet sie nach wie vor. "Am liebsten würde ich weiter vegan leben. Ich steh' da immer noch dahinter", sagt sie. "Aber für mich geht es eben nicht."


Jöran dagegen fühlt sich kerngesund. Einem Vitamin-B12-Mangel beugt er mit einer B12-haltigen Zahnpasta vor, ansonsten achtet er auf eine ausgewogene Ernährung. Vegan zu leben, fällt ihm nicht schwer. "Klar, wenn man in Wien ist und eine Sachertorte im Schaufenster sieht, denkt man sich: Verdammt, da hätte ich jetzt Lust drauf!" Doch er verzichtet gerne. "Es gibt ja auch ein Glücksgefühl, wenn man weiß, dass man das Richtige tut."


Text: Reiner Reitsamer und Jörg Winterbauer


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