Wer schon einmal länger in Schweden zu Besuch war, dem ist vielleicht aufgefallen, dass die Mülltrennung in Schweden etwas ernster genommen wird als in Deutschland. In einer schwedischen Mietswohnung findet sich oft ein System mit vielen kleinen Plastikeimern unter der Spüle, die in einem eigens dafür gedachten Raum in große Mülleimer entleert werden. Da wird zum Beispiel Zeitungspapier von Karton getrennt. Die Eimer sollen am besten ohne Plastiktüten verwendet werden, und für den Biomüll liegen eigene Papiertüten kostenlos im Supermarkt bereit. Winzig finde ich sie, und in einem Vegetarierinnenhaushalt schon nach 1 bis 2 Tagen voll. Weil ich das ganze System zwar für sinnvoll, aber sehr umständlich halte, drücke ich mich vor dem Müll herausbringen, wo es nur geht, seit ich in Göteborg wohne.
Vergangene Woche standen zwei dieser Biomüllsäcke direkt am Eingang zur Tür meiner Wohnung, die ich mir mit meinem Partner teile. "Mhm, hat er sie sich dorthin gestellt, damit er sie nicht vergisst rauszubringen", dachte ich an Tag 1. Am Abend von Tag 2 begannen sie zu müffeln und ich nahm den Weg zum Müllraum auf mich. Als mein Freund spätabends nach Hause kam, fragte ich ihn: "Sag mal, hast du die dorthin gestellt, damit ich sie rausbringe?" - "Ja, und es hat ja auch nur zwei Tage gedauert, bis du es verstanden hast", sagte mein Freund und lachte über seinen Erfolg. Ich staunte, und dann auch wieder nicht. Es ist zum einen sehr typisch für meinen eher introvertierten Freund, dass er lieber zu einer solchen Strategie greift, als mir einfach direkt zu sagen, dass ich auch mal öfter den Müll raustragen soll. Zum anderen ist es auch ein sehr schwedisches Verhalten, würde ich sagen. Ich kenne es nicht nur von meinem Freund, sondern Bekannten und mittlerweile auch Kolleg:innen.
Lust an Stille und Small Talk in SchwedenNach eineinhalb Jahren allein im Home-Office war ich fast ein bisschen aufgeregt, als ich das erste Mal ein schwedisches Büro betrat. Mein neuer Job sollte nicht nur meinem Geldbeutel, sondern auch meiner Integration dienen. An Freund_innen in Schweden mangelt es mir zwar nicht, aber hin und wieder fehlt es mir, regelmäßig in Gesellschaft zu sein. „Läget?", (deutsch:"wie geht es dir?") - begrüßt man mich freundlich, als ich das Büro betrat. Danach herrschte erst einmal stundenlanges Schweigen. Naja, manche arbeiten halt gern in Stille, denke ich noch und warte auf die Mittagspause. Im Lunchraum sitze ich mit jeweils zwei Stühlen Abstand, und über meinen Kopf hinweg wird gesprochen: Hier Fußball, dort sitzt die Kollegin und tippt in ihr Telefon. Sie vermeidet Blickkontakt. Weil ich als unsichere Extrovertierte schwer Stille in einer sozialen Situation ertragen kann, und ein bisschen aus journalistischer Berufskrankheit, stelle ich ihr ein paar Fragen, auf die ich einsilbige Antworten und kaum Gegenfragen erhalte.
„Bin ich denn wirklich so uninteressant?", frage ich mich, „und wenn ja, ist es dann nicht trotzdem höflich, ein bisschen Interesse zu heucheln?"
Diese Situation, die wohl den meisten, die aus anderen Ländern nach Schweden ausgewandert sind, bekannt vorkommen könnte, hat aber wenig mit einem selbst zu tun. In Norwegen und Schweden, so stellten es auch Maren, die bereits für mich gebloggt hat, und Frank und Vanessa von Läget neulich in einer Podcast-Folge fest, gilt es schnell als aufdringlich, soziale Kontakte zu fremden Menschen zu suchen. Rebecca Andersson, Sprachcoach und Gründerin der privaten Sprachschule "Sweteach", benennt diese Faustregel: "Beginne kein Gespräch mit einem Fremden, wenn ihr kein gemeinsames Problem oder keine gemeinsame Aufgabe habt." Eine Ausnahme sei zum Beispiel eine Bushaltestelle, wenn der Bus nicht kommt. Die Ausnahme, die ich ansonsten erfahren habe, ist die Sauna: Während man in Deutschland in der Sauna damit beschäftigt ist, andere möglichst nicht anzusehen, und schon gar nicht mit ihnen zu reden, ist die Sauna, DER Ort in Schweden, an dem sich Fremde gerne öffnen. Frei nach dem Motto: "Jetzt sind wir ja ohnehin schon nackt".
Kennt man die Leute schon ein bisschen, wird sehr gern gesmalltalkt. Beliebte Themen: Wetter, Serien, vergangenes Wochenende und Sport. Wie in Deutschland? Ja, aber mit einer richtigen Leidenschaft dahinter! Und bevor ich an die schwedische Westküste zog, war ich auch noch nie in einem Umkreis, in dem Boot fahren und Boote besitzen so selbstverständlich ist, wie ein Mountainbike im Keller. Welcome to the westcoast, på riktigt.
Jantelagen und KollektivstrafeNunja, so schlimm ist das nun auch wieder nicht, ich habe genügend Freund:innen aus dem Schwedischkurs, mit denen ich jede Menge gemeinsam habe und die kulturell wie individuell genauso geschwätzig wie ich geprägt sind. Aber vor schwedischen Meetings kann ich mich schlecht drücken - davon gibt es viele, und was mir auffällt: Selten wird etwas einfach einmal direkt mit einer Person besprochen, wenn andere zuhören, stets gilt die Ansprache allen - was ich bereits im Schwedischkurs etwas nervig fand, denn Menschen sind nun einmal unterschiedlich und haben unterschiedliche Stärken und Schwächen - und bringen sich unterschiedlich ein. Rebecca Andersson ordnet diese Situationen folgendermaßen für mich ein: "Generell kann man schon sagen, dass man als Schwedin ungern auf jemandens Schwächen vor anderen herum hackt, weder vor einer Klasse, noch in einem Team. Weil viele individuelle Konfrontationen vermeiden wollen, ist die Strategie stattdessen, zur ganzen Gruppe zu sprechen."
Eigentlich eine sehr schöne, und das Wohlbefinden stärkende Situation. Aber wer, wie ich selbst, eher zu viel als zu wenig über soziale Situationen nachdenkt, wird sich vielleicht in dem Risiko wieder erkennen, dass Rebecca beschreibt:
" Ein Risiko mit dieser Herangehensweise ist es natürlich, dass die Kritik nicht bei der richtigen Person ankommt, oder, dass andere Personen sich diese Kritik auch annehmen." Sie empfiehlt, wenn man sich unsicher ist, wer gemeint ist, lieber nach dem Meeting in einer Mail oder, wenn man allein in einem Raum ist, zu fragen. "Mit großer Wahrscheinlichkeit bekommt man dann die ehrlichste und konstruktivste Antwort".
Diese Art, alle immer gleich zu behandeln, heißt "Jantelagen", es ist ein skandinavischer Kulturkodex, dessen Name nach einer fiktiven Kleinstadt in einem Roman benannt ist. Im Prinzip bedeutet es, dass sich niemand über andere erheben solle, sich "nicht als etwas Besseres fühlen". Als ich nach Schweden zog, und diesen Gedanken immer wieder in der privaten Gesellschaft verwirklicht fand, fand ich ihn zunächst einmal toll, und etwas, was der deutschen Gesellschaft mit ihren großen Klassenunterschieden erst einmal gut stehen würde. Auf der anderen Seite habe ich mich mit der Zeit gefragt: Verschleiert es nicht die realen, ökonomischen Unterschiede, und bestehen die Hierarchien nicht formell trotzdem?
Als ich Tora Börjsson, Schwedischlehrerin für den staatlichen Schwedischkurs SFI, danach frage, welche Regeln sie ihren Schüler_innen im Schwedischkurs beibringt, antwortet sie: "Manche Sachen sind wichtig, um in der schwedischen Gesellschaft gut anzukommen, zum Beispiel, wie man sich in einem Arbeitsinterview benimmt, oder wie man einen formellen Brief schreibt. Aber andere Sachen sehe ich wirklich als weniger wichtig an, wie das "Jantelagen" zum Beispiel. Das Jantelagen enthält, dass man in Schweden nie selbst sagen kann, dass man gut in etwas ist. Das ist etwas, was ich bei meinen Schüler_innen schätzen kann, dass viele davon von dieser Art zu denken, befreit sind. Ich hatte neulich eine Schülerin, die sagte: "Ich schreibe super fantastische Gedichte!" Warum nicht?"
Schwed_innen bewundern DirektheitZu sehr, so Tora, Börjsson, solle man sich keine Gedanken darüber machen, zu direkt zu wirken, weil viele Menschen in Schweden diese Art eigentlich an anderen insgeheim bewundern würden. Genauso wie Rebecca, hilft sie Schüler:innen jedoch dabei, gewisse Regeln zu beachten, die dabei helfen, im Arbeitsalltag nicht aus schwedischer Sicht zu direkt oder aggressiv aufzutreten. Das kann zum Beispiel bedeuten, in einer E-Mail "es wäre super, wenn du den Text heute fertig schreiben kannst", zu schreiben, anstatt "du musst heute fertig schreiben".
Wer nach Schweden kommt, kann unter bestimmten Bedingungen Schwedisch im Schwedisch für Einwanderer-Kurs (SFI) lernen. Dort lernt man diese Regeln auch, doch so richtig habe ich sie erst begriffen, als ich in einem schwedischen Umfeld arbeitete. Auf der anderen Seite hat mich niemand darauf vorbereitet, wie es ist, deutsche E-Mails zu lesen, nachdem man den zuckrigen, sachlichen, präzisen Stil in Schweden gewohnt ist. Im Gegensatz erscheint mir wirklich, dass Menschen in den deutschsprachigen Ländern das Herz auf der Zunge tragen - und manchmal zu weit damit gehen, ihre ungefragte Meinung bei der kleinsten Dissonanz darzustellen.
Wie oft, wäre ein Mittelweg zwischen "Kollektivstrafe" und dem aufeinander rumhacken und losgehen, wie es an manchen deutschen Arbeitsplätzen üblich ist, ideal.
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