-
Unternehmerin Milena Glimbovski hat 2014 den ersten Unverpackt-Laden original.unverpackt in Berlin gegründet. Bereits ein Jahr später folgte gemeinsam mit Jan Lenarz ein Verlag, in dem Bücher zur achtsamen Alltagsorganisation erscheinen - unter anderem der Kalender Ein guter Plan. Ihre neueste Idee: Ein intersektionales Dorf, in dem auf möglichst viele unterschiedliche Bedürfnisse von den unterschiedlichsten Menschen eingegangen werden kann. Wie kommt jemand von der Idee, nachhaltige Produkte, zu verkaufen, zu nachhaltigen Lebensstrukturen?
Auf Glimbovskis Instagram-Profil zeigte sie im Mai statt Bildern, die ihren urbanen Familienalltag zwischen Unternehmerin und Mutter zeigen, ein Foto ihres Sohnes vor einer Kuhweide. Dort enthüllte sie überraschend, dass sie sich bereits seit März auf dem schwedischen Land befand. In einem eigenen, roten Schwedenhäuschen arbeitete und lebte sie mit Mann und Sohn, rund zwei Autostunden von Göteborg entfernt. Sie scheute sich zunächst, dies ihren rund 26 000 Follower*innen mitzuteilen. Aus Sorge, es könnte wie ein zur Schau stellen von Privilegien wirken. Schließlich entschied sie sich aber doch dafür, in diesem und folgenden Posts zu erzählen, wie sich ihr Leben während der vergangenen Monate verändert hatte.
Aufenthalt auf dem Land verändert die SichtGekauft hatte das Paar das Häuschen im vergangenen Jahr, ohne Corona voraus zu sehen. „Wir wollten einfach was Schönes auf dem Land haben", so die 30-Jährige. Die Wahl war auf Schweden gefallen, weil sie sich dort mit ihrer Familie bisher auf Reisen sehr wohl gefühlt habe und es dort günstigere und vielfältigere Möglichkeiten gibt als in der Nähe von Berlin, ein Eigenheim zu kaufen. Als die Pandemie ausbrach, hatte die Wochenend- und Ferienunterkunft plötzlich eine ganz neue Funktion bekommen: Der Gedanke, in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Kreuzberg eingeschlossen zu sein, löste in Milena Glimbovski eine Panikattacke aus.
https://www.instagram.com/p/CAZ6xC2pA90/
Deshalb beschlossen sie, die Stadt für das Land zu verlassen, jedoch war längst nicht geplant, bis August zu bleiben. Das Leben, das sie in diesen Monaten mit ihrer Familie verbrachte, hat sie spüren lassen, dass sie dauerhaft nicht in Berlin leben möchte. Die bessere Luft, die Arbeit im Garten und der gute Kontakt mit den Nachbar*innen, die ihnen stets offen und freundlich gegenüber getreten waren: Für Milena Glimbovski überwogen vor allem die Vorteile des Landlebens. „Mir ist die Stadt wirklich manchmal einfach zu viel", stellt sie fest. „Sie zu verlassen ist wichtig für meine Gesundheit, und um nicht in Versuchung zu geraten, ständig Termine wahrzunehmen."
Rückkehr nach KreuzbergErst vergangene Woche ist Milena Glimbovski nach Berlin zurückgekehrt. Nach fast einem halben Jahr auf dem Land hatte sie Angst, zurück zu kommen. „Kreuzberg ist echt das Gegenteil von Landleben". Vermisst hatte sie von ihrem großstädtischen Wohnort nicht viel, außer zwei Dinge: Ihren Freundeskreis und die Kinderbetreuung, die der Hauptgrund war, nach Berlin zurückzukehren. Mitgebracht hat die 30-Jährige deshalb eine Idee: Was, wenn man dieses und andere Bedürfnisse auch auf dem Land abdecken könnte? In einem intersektionalen Dorf mit Gleichgesinnten? Doch was stellt sie sich darunter überhaupt vor?
„Oft kommen auf solche Ideen [ein eigenes Dorf zu gründen] weiße Bildungsbürger*innen, die in Kreuzberg wohnen, also Leute wie ich", sagt die Gründerin von „Original unverpackt" und „Ein guter Plan", „da bedenkt man viele Sachen nicht". Ihr läge es jedoch daran, zum Beispiel auch Menschen mit Behinderung, Menschen, die sich wenig leisten können, und Schwarze Menschen mit einzubeziehen. „Für Schwarze Menschen ist zum Beispiel Brandenburg gefährlich", sagt Milena. Darüber habe sie sich bereits mit von Rassismus betroffenen Menschen ausgetauscht. Deshalb gelte es, einen Ort zu finden, an dem sich alle sicher fühlen können. Auch ein Einbeziehen von Menschen, die sich normalerweise kein Eigenheim auf dem Land leisten können, sei ihr wichtig und müsse gemeinschaftlich geregelt werden.
Im Zentrum der Planungen stehe auch eine klimapositive Landwirtschaft, die das Dorf selbst versorgen würde. Wer will, kann dabei mitmischen, oder aber seinem eigenen Beruf nachgehen. Es gäbe neben der Arbeit auf dem Feld auch viel zu tun, bei dem auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen integriert werden könnten, etwa wenn es darum gehe, Obst und Gemüse zu verarbeiten oder Maschinen zu reparieren. „Da lese ich mich gerade erst ein". Digitalarbeiter*innen wüssten oftmals gar nicht, was alles hinter dem Begriff „Landwirtschaft" stecke.
Das inklusive Dorf für alleAber wären wirklich alle in so einem intersektionalen Dorf willkommen? Wie würde sie damit umgehen, wenn etwa rechte Siedler*innen mitmischen wollen würden? „Ich glaube grundsätzlich, dass sie gar nicht auf mich zukommen würden, weil sie erkennen, dass wir unterschiedliche Werte haben. Ich versuche ja zum Beispiel, meine Sprache zu gendern, nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich". Aber es wäre ihrer Meinung dennoch nicht schlecht, im Vorfeld bereits Sensibilisierungsseminare, zum Beispiel zu Rassismus und Feminismus, durchzuführen, „damit man später nicht mehr so viel diskutieren muss".
https://www.instagram.com/p/CDCPo9rJ4CX/
Auf Instagram hatte sie ihre Idee Ende Juli mit ihrer Community geteilt und daraufhin gleich sehr viel Feedback dazu erhalten, was sich Menschen von einem intersektionalen Dorf wünschen würden. Im Austausch mit anderen wäre es möglich, ein solches Dorf nach den speziellen Bedürfnissen unterschiedlicher Menschen bereits von Anfang an zu planen: „Schon das Nachdenken darüber ist spannend", so Glimbovski, „wenn man zum Beispiel sagt, man baut barrierefrei, ist es wichtig, gleich die Rollstuhlfahrer*innen bei der Planung miteinzubeziehen". Sie erhofft sich von einem idealen, intersektionalen Dorf, alle so teilhaben zu lassen, dass sie sich unabhängig von Alter, Gesundheit und Sexualität wohlfühlen können. „Auf ein gutes Leben, darauf hat doch jede*r Bock", sagt sie enthusiastisch.
Milena Glimbovski hat sich zu diesem Thema auch bereits tiefergehende Gedanken gemacht. Gerade in Schweden habe sie eine Vielzahl von Menschen getroffen, die eine medizinische Ausbildung oder bereits in der Pflege gearbeitet haben. „Tagesdienste scheinen hier viel normaler". Deshalb scheint ihr eine gemeinschaftliche Sorge füreinander gerade hier möglich. Die Anbindung an die medizinische Versorgung müsse jedoch, auch für ältere Menschen, gegeben sein.
Frederik Fischer, KoDorf-Initiator und Summer of Pioneers-Gründer. Foto: PR.Auch Frederik Fischer, Initiator der Ko-Dörfer und des Summer of Pioneers hat Pläne für ein neues, gemeinschaftliches Arbeiten und Leben auf dem Dorf. Er bedenkt dabei ebenfalls, viele verschiedene Menschen miteinzubeziehen. „Durch Corona ist die Zahl der Menschen im Home-Office auch extrem gestiegen", sagt er, „es sind nicht mehr nur die Journalisten und Programmierer. Unsere Zielgruppe ist gewachsen".
Von Handwerker*in bis Digital NativeGern würde er auch mehr Menschen in handwerklichen Berufen integrieren. Von dieser Berufsgruppe komme bisher noch nicht viel Interesse. Dabei sieht das KoDorf durchaus vor, auch Räume für Handwerk zu vermitteln, wenn dies die Häuser selbst nicht hergeben. „Viele haben viel Raumbedarf, das kann ein Grundstück bei uns nicht immer leisten", sagt der Visionär. Andererseits gibt es in vielen Orten auch Leerstand, dabei können unter anderem Handwerker*innen helfen, Orte wieder zu beleben. „Wir sind froh, wenn wir da Brücken bauen können", so Fischer.
Was allerdings eine Fürsorge von pflegebedürftigen Personen innerhalb der Gemeinschaft angeht, ist Fischer nicht so optimistisch wie Glimbovski: „ Wir sind ein gemeinschaftliches Projekt, ohne öffentliche Förderung. Pflege ist wahnsinnig teuer, so etwas muss die Gemeinschaft beschließen. Ich halte das nicht für realistisch, da müssen wir auf bestehende Strukturen zurückgreifen", erklärt der Gründer.
Durch unseren Umzug in eine Gartenstadt habe ich mich in letzter Zeit intensiver mit den Ursprüngen dieser sozialreformerischen Bewegung beschäftigt und dabei verblüffend viele Parallelen zum #KoDorf entdeckt. GoGoGartenstadt! https://t.co/RFnp4NGLLb#ruralinnovation
- Frederik Fischer (@FrederikFischer) August 11, 2020Neben Wiesenburg (Brandenburg) und Erndtebrück (Nordrhein-Westfalen) sind auch Standorte in Hessen und Baden-Württemberg geplant. Anfang nächsten Jahres soll der Bau in Wiesenburg losgehen. Eine Community sei dort jedoch bereits zusammen gewachsen. Dabei seien Leute von Mitte 30 bis ins Rentenalter. Eine klare Mehrheit an Frauen sei auch dabei. Warum das so sei, darüber hätten die Gründer auch schon einmal nachgedacht. Zu einem Schluss sei man jedoch noch nicht gekommen.
Bestehende Strukturen als Dienstleister?Fischer zu Folge profitieren in kleinen Ortschaften auch die Kindertagesstätten vom Zuzug. Diese versuche man stets erst einzubinden, bevor man hier über eigene Strukturen nachdenkt. Auch Lasse Kroll vom Accelerator lab 4 land, der Akteur*innen für das Arbeiten im ländlichen Raum bundesweit zusammen bringt, sieht die Kindertagesstätten als einen lokalen Dienstleister, ebenso wie einen Dorfladen, den man mit den Zugezogenen zusammenbringen kann. Er sieht Co-Working auch als Chance zur sozialen Gemeinschaft. „Viele Dörfer sind ausgestorben", sagt er über die Voraussetzungen, „aber das Land ist nicht per se schlecht". Seiner Ansicht nach wird der Zuzug in die Städte in Zukunft abnehmen und der Corona-Virus, auf Grund dessen noch mehr Arbeitskräfte auf remote gewechselt sind, werde diese Entwicklung noch beschleunigen.
https://www.instagram.com/p/CDOJp5uH3iZ/
Bei einem sind sich alle drei einig: Langfristig können urbane Strukturen auf dem Land nur gelingen, wenn die Akteur*innen wirklich bereit sind, aufs Land zu ziehen. Noch wohnt Lasse Kroll in Berlin, er könnte sich einen Umzug aufs Land jedoch vorstellen: „Ich arbeite remote. An meiner Arbeitswelt hat Corona nichts geändert."
Nicht nur pendeln, sondern anpackenMilena Glimbovski verweist darauf, dass sie von der Kulturinitiative landlebtdoch einen wichtigen Hinweis erhalten habe. In einem Kommentar auf Instagram schreibt diese: „Landleben heißt aber auch, sich für die Schule, den Kindergarten, für die Freiwillige Feuerwehr, den Theaterabend und den Dorfladen zu engagieren. Wir müssen anders als in der Stadt, die meisten Dinge selber machen, sonst gibt es sie nicht. Gerade diejenigen, die vor allem Pendeln zwischen Großstadt und Dorf, hinterlassen im Dorf eine Lücke." Wichtig wären Ideen, wie diese Lücken zu füllen wären. Glimbovski stimmt zu: „Es reicht nicht, zu pendeln. Man muss sich auch unter der Woche engagieren".
Wie das „intersektionale Dorf" genau aussehen soll, und ob sie wirklich selbst gründet oder sich einem bestehenden Projekt anschließt, weiß Milena Glimbovski noch nicht genau. „Ich bin noch in der Recherchephase. Erst einmal möchte ich Leute abklappern und mich vernetzen". Sie hatte aber mit ihren Instagram-Posts und Stories zum intersektionalen Dorf erst einmal sehen wollen, was theoretisch möglich wäre. Man könne auch einmal „nur rumspinnen". Allerdings hätte genauso ihre erste Gründung, „original unverpackt", begonnen. „Wenn es mir gelungen ist, mit 22 Jahren meinen ersten Laden aufzumachen, kriege ich vielleicht auch ein Dorf hin".