
Film still: Ankunft im Hafen von Malmö aus Every Face has a Name von Magnus Gertten © Gustaf Boge / Auto Images
Möwengeschrei, Meeresrauschen, hunderte Gesichter blicken freudig winkend vom Deck eines Schiffes, das in einen Hafen einfährt. Diese Aufnahme ist Teil des Films Vittnesbördet (Schweden, 1945)[1], der im April 1945 im Rahmen der Rettungsaktion der Weißen Busse des Schwedischen Roten Kreuzes die Ankunft befreiter Häftlinge aus nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern im Hafen von Malmö audiovisuell festhält. 2020 wurde der 22-minütige unter der Regie von Nils Jerring produzierte Film als Teil des nationalen Filmerbes vom Schwedischen Filminstitut und der Schwedischen Nationalbibliothek digital restauriert und online frei zur Verfügung gestellt. Die Aufnahmen aus halten die ersten Schritte der Häftlinge in Freiheit außerhalb der Lager fest.
Fasziniert von den anonymen Gesichtern der ankommenden Menschen, die auf den V-Sequenzen zu sehen sind, macht sich der schwedische Regisseur Magnus Gertten zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf die Suche nach ihnen. In unterschiedlichen Teilen der Welt, Israel, Südafrika, den Vereinigten Staaten und auch Schweden findet Gertten einige der Überlebenden. In umfangreichen Interviews mit den Zeitzeug:innen konfrontiert der Filmemacher die Überlebenden sieben Jahrzehnte später mit den Archivbildern ihrer Ankunft in Malmö. Die audiovisuelle Zusammenführung von Zeitzeug:innen und Archivfilm ist charakteristisch für die Montage[2] der dokumentarischen Trilogie Hoppets hamn (Schweden, 2011)[3], Every Face has a Name (Schweden, 2015)[4] und Nelly & Nadine (Schweden, 2022)[5] des schwedischen Regisseurs Magnus Gertten.
Ein Zeugnis für die (Nach-)WeltIm Rahmen der Rettungsaktion der Weißen Busse durch das Schwedische Rote Kreuz filmte der schwedische Fotograf und Kameramann Gustaf Boge (1891-1958) die Ankunft verschiedener Schiffsfähren im Hafen von Malmö am 28. April 1945 auf 35mm-Negativfilm in Schwarz-Weiß. An Bord waren neben dem Schiffspersonal und den Mitarbeiter:innen des Roten Kreuzes 1948 Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen in verschiedenen nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert waren. Die Mehrheit der über 15.000 im Frühjahr 1945 Geretteten[6] waren politische Häftlinge aus Norwegen und Dänemark. Aber auch tausende KZ-Insassen, die anderen Häftlingsgruppen oder Nationalitäten angehörten, konnten durch die Aktion der Weißen Busse aus den Lagern befreit werden.
Am 7. Mai 1945 wurden Boges Aufnahmen im Rahmen der Premiere des Films in Stockholm vor schwedischem Publikum uraufgeführt. Dabei zeigt kleinteilig den Prozess des Ankommens: Die in den Hafen einfahrenden Fähren, auf denen hunderte Menschen freudig als Ritual der Ankunft im Hafen winken, das Verlassen der Schiffe, die ersten Schritte auf schwedischen Hafenboden, sowie die humanitäre und sanitäre Versorgung der Häftlinge. Die Filmaufnahmen zeigen die Ankommenden als Opfer nationalsozialistischer Verbrechen, die meisten mit rasierten Köpfen, einige immer noch in gestreifter Häftlingskleidung, teilweise vollkommen ausgemergelte, fast verhungerte, kranke, verwundete Körper, die zu schwach zum Laufen sind. So veranschaulicht der mittlere Teil des Kurzfilms die Erstversorgung der Häftlinge durch Mitglieder des Schwedischen Roten Kreuzes und der Marine. Im letzten Drittel konzentriert sich der Film auf die Geschehnisse nach der unmittelbaren Ankunft und Versorgung: die Wiedereinführung der Menschen in ein Leben in Freiheit. Boge hält die äußerliche, visuelle Transformation vom Häftling zum Überlebenden mit seiner Kamera fest. Der Filmtitel Vittnesbördet, deutsch für „Das Zeugnis", manifestiert bereits den bezeugenden Charakter der Filmaufnahmen Boges als audiovisuelle Quelle, die ein gegenwärtiges Ereignis, die Ankunft im Hafen von Malmö, für die Nachwelt dokumentiert. Der Film über die Rettungsaktion dient so bis heute auch der nationalen „Selbstlegitimierung", der „Rechtfertigung und Überhöhung der schwedischen Neutralitätspolitik"[7] in Geschichte des Zweiten Weltkriegs.
... Zum Original