Anlässlich des Gedenkjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland warf die Retrospektive des 64. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm einen filmhistorischen Blick auf „Die Juden der Anderen. Geteiltes Deutschland, verteilte Schuld, zerteilte Bilder“.
Aufgeteilt in sechs Vorführungen berichteten sechszehn ausgewählte Kurz- und Dokumentarfilme inklusive eines Filmfragments über die „Ambivalenzen zusammenhängende[r] Geschichte"[1] des Judentums in Deutschland. Rückblickend aus der Perspektive einer deutschen Mehrheitsgesellschaft schauen die von Ralph Eue und Sylvia Görke ausgewählten Filme auf das deutsche Judentum als Minorität in der nationalen Geschichtsschreibung. Die Überlieferung jüdischen Lebens in Deutschland beginnt mit Kaiser Konstantins Edikt aus dem Jahr 321, welches Juden im städtischen Leben Kölns und anderer deutscher Gemeinden bezeugt und sie in den gesellschaftlichen Strukturen der Zeit sichtbar werden lässt.[2] Doch das Programm der DOK-Retrospektive befasst sich weniger mit dem städtischen Zusammenleben, der Verfolgung und Vertreibung der Juden im Mittelalter und der Neuzeit. Es fokussiert vielmehr die Zuspitzung des deutschen Antisemitismus in der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert. Zeitlich thematisieren die meisten der gezeigten Filme die Nachkriegszeit und die deutsche Teilung bis hin zum jüdischen Leben im wiedervereinten Deutschland zu Beginn des neuen Jahrtausends. Wichtiger inhaltlicher Programmschwerpunkt war dabei vor allem der „Holocaust als moralischer Prüfstein"[3] und die darauffolgende Zäsur in der deutsch-deutschen Geschichte. Die Filme schauen auf deutsch-deutsche Wechsel- und Gegenblicke, zeigen Bilder des „Jüdischen" und des „Deutschen“ im Spannungsverhältnis. Eine grundlegende Leitfrage der Festivalsektion war der divergierende Umgang beider deutschen Staaten mit der gemeinsamen Schuld.[4]
Die Filme, die im Rahmen der Retrospektive immer zu zweit, dritt oder viert an verschiedenen Tagen der Festivalwoche Ende Oktober 2021 im Wintergarten in den Passage Kinos Leipzig vorgeführt wurden, enthalten hauptsächlich audiovisuelle Dokumente des 20. und einige wenige des 21. Jahrhunderts und wurden zwischen den 1940er- bis in die späten 2000er Jahre produziert und gedreht. Die Regie der im Rahmen der Retrospektive gezeigten Filme ist fast ausschließlich männlich besetzt und der deutschen, nicht-jüdischen Mehrheits- bzw. Nachkriegsgesellschaften zuzuordnen.
In Festivalmanier waren bei einigen DOK-Filmvorführungen auch die jeweiligen Regisseur:innen oder Expert:innen aus der Wissenschaft zur Einbettung der audiovisuellen Quellen im Leipziger Kinosaal zu Gast. Wie die Intention der Sektion bereits vorwegnimmt, schauen die Filme der letztjährigen DOK-Retrospektive zurück auf mehrere Jahrhunderte deutsch-jüdischen (Zusammen-)Lebens.
Eine Retrospektive ist eine „Filmreihe, die einen vollständigen Überblick oder eine ausgewählte Werkschau zu einem einzelnen Künstler, oder einem einzelnen Genre oder einer nationalen Kinematografie bietet, zu einem historischen oder technischen oder thematischen Aspekt."[5] Ein derartiger audiovisueller Rückblick fand erstmals mit der „Filmschau der Brüder Skladanowsky" statt, „die 1895 all ihre Filme an einem Abend in Berlin zeigten."[6]
Ab 1960 widmete sich auch die „Leipziger Kurz- und Dokumentarfilmwoche" dieser Art einer zurückblickenden Filmfestivalsektion. Zu Beginn setzten oftmals Werkschauen zu einzelnen Filmschaffenden wie Dsiga Wertow (1960), Alberto Cavalcanti (1962), Joris Ivens (1963) und Roman Karmen (1971) programmatische Akzente. Später konzentrierte sich die DOK-Retrospektive vor allem auf die Dokumentarfilmlandschaften einzelner Nationen wie zum Beispiel die der Sowjetunion (1967, 1970) Frankreich, (1966), Polen (1968), Tschechien (1980), Spanien, der USA (1981), Japan (1976) sowie lateinamerikanischen Staaten (1972) wie Kuba (1974) oder Chile (1983). [7] In einigen Festivaljahren beschäftigte sich die Retrospektive der DOK-Leipzig auch mit der nationalen Film- und TV-Publizistik in der DDR (1969, 1975, 1979, 1989).
Im Jahr 1973, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Gründung zweier deutscher Staaten 1949, widmete sich die Sektion dem „Film im Klassenkampf - Tradition der proletarischen Filmbewegung in Deutschland vor 1933" und damit auch den gemeinsamen deutschen Wurzeln vor der Teilung.
Erst nach der Wiedervereinigung thematisierte die Retrospektive der DOK-Leipzig explizit auch die eigene deutsch-deutsche Filmgeschichte. Der audiovisuelle Blick auf die Teilung Deutschlands wurde mit unterschiedlichen thematischen und personellen Schwerpunkten - gekrönt von der 2019er-Sektionsausgabe zu „ BRDDR - Wechselblicke auf 40 Jahre deutsche Doppelstaatlichkeit " - zur beliebtesten Grundlage der Retrospektive in den letzten zwei Jahrzehnten. Auch wenn sich die Sektion bereits in dessen Todesjahr 1996 unter dem Titel „Die Wirklichkeit hinter den Bildern" mit Filmen des deutschen Filmeschaffenden jüdischer Herkunft Erwin Leiser (1923-1996) befasste, fokussierte sie im letzten Jahr erstmals das Spannungsverhältnis deutsch-jüdischer Identitäten durch die deutsche (Zeit-)Geschichte.
...Zum Original