Eine ältere Dame mit weißem Haar, gekleidet in ein azurblaues Kleid, sitzt auf einem Sofa in einer Pariser Altbauwohnung, der Kamera, die nur wenige Meter vor ihr steht, zugewandt. Von der rechten Seite scheint durch die großen Fenster die hellorangene Herbstsonne in das Wohnzimmer des Altbaus der französischen Hauptstadt.
Der im linken Bildrand eingeblendete Text verrät der Zuschauerin, dass die Aufnahmen dieses Videos an drei Tagen im Oktober 1994 aufgezeichnet wurden. Die Frau namens Golda Maria war 84 Jahre alt. Hinter der Kamera sitzt ihr damals vierundvierzigjähriger Enkelsohn Patrick Sobelman, ein französischer Filmproduzent.[1] Verschmitzt und neugierig schauen ihre blauen Augen in die Kamera, sie lacht und beginnt ihrem Enkelsohn von ihrem Leben zu erzählen: Golda Maria Tondovska wurde als jüngste Tochter einer jüdischen Großfamilie geboren, die bei ihrer Geburt im Jahr 1910 in Burzenin, einem kleinen Dorf in der Nähe von Łódź, lebte. In den Wirrungen des Ersten Weltkrieges musste die Familie aus Polen über Danzig nach Berlin fliehen. Die sechsjährige Golda Maria spricht mit ihrer Familie vor allem Jiddisch, und lernt in Berlin Deutsch. Sie ist die jüngste Tochter von sechs Kindern und hat fünf ältere Geschwister, drei Schwestern und zwei Brüder. Als Küken ist sie der Liebling ihres Vaters und der Sonnenschein der Familie - so berichtet sie es zumindest ihrem Enkelsohn siebzig Jahre später. In den 1920er Jahren habe sie eine glückliche Kindheit in Berlin-Charlottenburg verbracht. Golda Maria erzählt mit großem Enthusiasmus eine Anekdote aus ihrer Schulzeit: Im Geschichtsunterricht in der Schule sollten die Schüler*innen ein Essay schreiben. Golda Maria schrieb über die Französische Revolution und bekam eine besonders gute Note. Sie bemerkt, schon damals liebte sie Frankreich und war fasziniert von den aufklärerischen, humanistischen Ideen, die die Französische Revolution mit sich brachte. Auch später wird die Wahlfranzösin und gebürtige Polin immer wieder ihre Liebe zu Frankreich bekunden. Über weite Strecke ihres Lebens musste Golda Maria als Displaced Person (DP) nach einer neuen Heimat suchen und hat in Frankreich ihr selbst gewähltes Mutterland gefunden, eine Heimat, und damit einen Ort, an den sie immer wieder zurückkehren wird.
Anfang der 1930er Jahre kann sie als junge Erwachsene gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Pola und deren kleiner Tochter endlich nach Paris reisen. Sie kehrt jedoch nach wenigen Monaten nach Berlin zurück. Im Jahr 1933 flieht sie zurück in ihre Wahlheimat nach Paris zu ihrer dort lebenden Schwester und beginnt dort eine Ausbildung zur Krankenschwester. Auch viele ihrer Verwandten verlassen zu Beginn der 1930er Jahre Berlin. Allen voran ihre Eltern und ihr ältester Bruder Maurice. Lange hatten diese mit dem Gedanken gespielt nach Palästina auszuwandern. Durch die politischen Geschehnisse 1933 motiviert, entscheiden diese sich für eine beschwerliche Überfahrt nach Haifa. Die Erzählung der Einwanderung ihrer Familie nach Palästina wird durch Archivfilmausschnitte von im Hafen ankommenden Flüchtlingsschiffen, auf denen die Passagiere glücklich an Deck winken, auf der Leinwand begleitet.
In migrantisch-jüdischen Kreisen lernt Golda die Pariser Polin Paulette Eisenberg kennen, die Golda mit ihrem Sohn Pierre verkuppelt. Pierre und Golda Maria heiraten und bekommen 1937 eine Tochter, Simonette, und wenige Jahre später 1940 einen Sohn, dem sie den Namen Robert gibt. Die beiden Kinder machen das Familienglück perfekt: Während Golda Maria über ihre Heirat und Mutterwerdung berichtet, werden Fotografien aus den Familienalben eingeblendet.
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