Von der Wiege bis zur Bahre an einem Ort bleiben – dieses Modell wird immer seltener. Gerade ländlichen Regionen und speziell dem Osten kehren junge Menschen oft den Rücken. Der Ethnologe Wolfgang Kaschuba erklärt, was Orte attraktiv macht. Als einen Schlüssel zum Erfolg sieht er eine vielfältige Gesellschaft: Denn je mehr unterschiedliche Lebensstile denkbar sind, umso mehr Bedürfnisse werden abgedeckt.
Wolfgang Kaschuba: Das kann man gar nicht sagen. Denn im Grunde genommen bewegen sich Menschen entweder ganz weit oder relativ wenig weit weg. Beispielsweise Menschen, die flüchten müssen und nicht freiwillig abwandern: Sie gehen meistens in die nächste Nachbarschaft, weil sie ja wieder zurückkommen wollen. Die Leute, die sich entscheiden auszuwandern, die gehen weiter weg.
Bei denjenigen, die sich innerhalb von Deutschland bewegen, ist der Wanderungsradius so zwischen 100 und 500 Kilometer weit - je nachdem, ob man in die nächste Großstadt geht oder ob man in ein anderes Bundesland geht.
Da sind die Motive heute unglaublich vielfältig: Das reicht von Arbeitsplätzen über Bildungsstrategien, Lohnhöhen und Mietpreise bis hin zur Liebe und anderen Faktoren. Es hat auch mit Gesellschaft und Kultur zu tun: Die jungen Erwachsenen, die besonders mobil werden, wollen einen Lebensentwurf verwirklichen. Ob das klappt, ist eine ganz andere Frage. Aber sie haben die Idee, eine bestimmte Ausbildung zu wollen, haben einen bestimmten Berufswunsch, konkrete Vorstellungen von Partnerschaft, von Musik oder Mode.
Und da beobachten wir: Es gibt attraktive Räume, die Leute anziehen, und es gibt offenbar weniger attraktive Räume, also passive Räume, aus denen Leute nur abwandern. Die jungen Leute, die etwas wollen und die etwas können, die zieht es vor allem in die großen Städte, in denen sie ein anderes Maß an Freiheit und Beweglichkeit, aber auch weniger Kontrolle der Umwelt verspüren. Vor allem ländliche Regionen schneiden da insgesamt eher schlechter ab, sowohl in Europa als auch konkret in Deutschland.
Die groben Wanderungslinien sind deutlich: vom Land in die Stadt, im Moment noch von Ost nach West und teilweise auch von Nord nach Süd. In Baden-Württemberg, in Bayern, auch in Hessen ist die Landflucht bei Weitem nicht so stark wie in Sachsen-Anhalt oder Schleswig-Holstein. Aber das sind nur die groben Trends. Es gibt auch immer wieder kleine Regionen, die hochattraktiv sind für junge Leute. Und da ist ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung der Gesellschaft Diversität. Je diverser, also vielfältiger, eine Gesellschaft ist - und zwar nicht in der Theorie oder im Fernsehen, sondern ganz konkret vor Ort -, umso eher sind unterschiedliche Lebensstile denkbar und umso mehr Bedürfnisse werden abgedeckt.
Die Heimat mag nette räumliche Erinnerungen hervorrufen - an Kinderspaziergänge und ähnliches - aber im Grunde ist die Heimat dort, wo wir Kontakte zu anderen Menschen haben. Das ist nicht immer der Geburtsort. Die Mär von der glücklichen Kindheit gilt nicht für alle und deswegen ist Heimat immer eher eine soziale Heimat, bei der Menschen eine Rolle spielen, die uns Sicherheit geben und denen wir etwas bedeuten.
Das ist schon dramatisch. Wer zurückbleibt, sind in der Regel die Älteren, dann diejenigen, die in der Verwaltung oder in einzelnen Betrieben eine gute, feste Position haben. Oft sind es aber auch die kleinen Kinder, die bei den Großeltern zurückgelassen werden, wenn die Eltern sich beruflich verändern, mobil werden und nicht immer ihre Kinder mitversorgen können. In manchen ländlichen Regionen bekommen wir durchaus chinesische Verhältnisse. Wir haben in China große ländliche Regionen, da finden Sie auf der einen Seite nur Leute über 60 und auf der anderen Seite Kinder unter 14. Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs oder abgewandert. Das bedeutet auch, dass der aktive Teil, der kritische und veränderungsbereite Teil der Gesellschaft weggeht. Das Land wird also konservativer und das beschleunigt wiederum die Abwanderung der Jüngeren, die Veränderung haben wollen.
Es sind aber auch vor allem Frauen, die ländliche Räume verlassen. Interessanterweise können wir das bei sogenannten Biodeutschen beobachten - deren Vorfahren seit Generationen schon in Deutschland sind - genauso wie bei migrantischen Familien, die erst in der zweiten oder dritten Generation hier sind.
Sehr häufig beobachten wir, dass es gerade gegenüber jungen Frauen noch Rollenverständnisse gibt, dass die Umgebung, die Nachbarschaft und Verwandtschaft denken, sie müssten die schützende Hand über die jungen Frauen halten. Die Kontrollfunktion der ländlichen Gesellschaft wird von jungen Frauen offenbar sehr viel stärker wahrgenommen als von jungen Männern. Wir wissen auch, dass traditionell eingestellte Eltern klassischerweise den Söhnen immer mehr Freiheiten geben als den Töchtern. Heute rächt sich das und gut ausgebildete junge Frauen nehmen sich dann ihre Freiheit. Wir haben eindeutig ländliche Regionen mit einem deutlichen Männerüberschuss. Das heißt auch: es gibt viel zu wenige Frauen für eine Partnerschaft, für Familie, für Ehe.
Viele Dörfer und Kleinstädte bemühen sich zum Beispiel, die Situation für Familien zu verbessern. Bis vor wenigen Jahren war es in vielen ländlichen Regionen noch üblich, dass Kindergärten oder Kitas höchstens bis 12 oder 13 Uhr offen waren - dann hatte sich die Mutter zu kümmern. Heute weiß man, dass das für berufstätige Frauen einfach nicht mehr möglich ist. Es wird also versucht, Bildungsinfrastrukturen, aber auch Arbeitsmöglichkeiten in den Gemeinden zu halten und zu schaffen. Das geht von der Schule und der Arztpraxis, die man vor Ort haben will und nicht erst in der nächsten Kreisstadt, bis zu Jobangeboten, die bewusst hergeholt werden.
Da gibt es eine ganze Menge Kleinstädte von Bayern über Sachsen bis Nordrhein-Westfalen, die bezeichnenderweise auch in der sogenannten Flüchtlingskrise aktiv geworden waren. In der bayerischen Gemeinde Murnau hat sich beispielsweise der Bürgermeister 2016 hingestellt und gesagt: Wir brauchen und wollen Flüchtlinge. Gleichzeitig finden da auch viele Fördermaßnahmen für junge Frauen statt. Also die Städte und Dörfer, die sich um ihre Zivilgesellschaft kümmern, tun das oft gleich auf vielen Ebenen.
Jule Wasabi (WDR) und Friederike Schicht (MDR), zwei junge Journalistinnen, aufgewachsen in Schwaben und in Sachsen-Anhalt. Zusammen mit Gästen schauen sie auf ihr Leben mit der Einheit.
Gegenseitige Vorurteile ergründen, Entwicklungen in Ost und West hinterfragen - und ins Gespräch kommen. Jule und Rike wollen der Nachwende-Generation eine Stimme geben - und die Mauer in den Köpfen einreißen.
Der wöchentliche Podcast startet am Mittwoch, den 9. September, mit dem Thema "Wetten, auch Du hast Vorurteile?". KOHL KIDS ist zu hören in der ARD-Audiothek, bei Instagram @kohlkids.podcast oder bei Spotify.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 16. September 2020 | 05:00 Uhr
Zum Original