29.09.2016 · Vor 75 Jahren ermordete die SS an zwei Tagen mehr als 30.000 Juden in Kiew. Lange schwieg man in der Ukraine. Der Umgang mit dem Massaker ist bis heute widersprüchlich.
K iew hat Babyn Jar verschluckt. Die Schlucht ist heute weitgehend zugeschüttet und bewachsen, in der vor 75 Jahren über 30.000 Juden binnen 36 Stunden von SS-Sonderkommandos erschossen wurden. Ein wilder Park, in dem die Erinnerung an das Massaker begraben und nivelliert wurde, auf dem Straßen und Wohnblocks gebaut wurden. Der Zweite Weltkrieg ist in der Ukraine ein Schlachtfeld um Erinnerungskultur und nationale Identität. Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist widersprüchlich und ambivalent. Viele Ukrainer wissen bis heute nicht von diesem historischen Ort inmitten ihrer Hauptstadt.
Am 19. September 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht Kiew. Viele Bewohner staunten zunächst nicht schlecht über diese moderne Armee, deren Soldaten und Panzer da plötzlich durch die Straßen zogen und Kiew unter ihre Kontrolle brachten. Anatolij Kusnezow, russischer Schriftsteller, war damals zwölf Jahre alt. Sein Großvater freute sich über die jungen Soldaten, die besser gekleidet und gesünder aussahen, als die Rotarmisten, die ihm verhasst waren. „Die Macht der Sowjets ist zu Ende!", rief er freudig aus. „Ich dachte schon, dass ich das nicht mehr erleben werde!"
Doch die Deutschen brauchten nicht lange, bis auch dem größten Gegner der Kommunisten klar wurde, wer da die Macht ergriffen hatte. Die Rote Armee hatte bei ihrem Rückzug mehrere Gebäude in der Innenstadt vermint. Kurz nach dem Einzug der Deutschen explodierten mehrere Bomben und legten die zentrale Flaniermeile Chreschtschatyk in Schutt und Asche. Viele Zivilisten und Wehrmachtsangehörige kamen ums Leben.
Der kurz zuvor zum Stadtkommandanten ernannte Generalmajor Kurt Eberhard lud daraufhin zur Besprechung in seine Diensträume. Zusammen mit dem Befehlshaber der Einsatzgruppe C, SS-Brigadeführer Otto Rasch, und dem Befehlshaber des Sonderkommandos 4a, SS-Standartenführer Paul Blobel, beschlossen die Männer die Massenexekution der noch in Kiew verbliebenen Juden in der Schlucht Babyn Jar, getarnt als Vergeltungsschlag für die verminten Gebäude.
Zur Zeit des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion sollen bis zu 200.000 Juden in Kiew gelebt haben. Geschichten von Exekutionen und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen in den von der vorrückenden Wehrmacht eroberten Gebieten waren jedoch in andere Städte der Sowjetunion durchgesickert. Viele Menschen flohen in Panik oder wurden in die Rote Armee eingezogen. Zurück blieben knapp 50.000 Alte, Frauen und Kinder.
Die Deutschen verteilten nach der Besprechung bei Generalmajor Eberhard einen Aufruf an die jüdische Bevölkerung, sich „am 29. September 1941 um 8 Uhr an der Ecke Melnik- und Dokteriwski-Straße" einzufinden. Man solle seine Wertgegenstände und warme Kleidung mitbringen, wer nicht erscheine, werde sofort erschossen. Viele Juden glaubten an eine Umsiedlung und fanden sich am Morgen des 29. September am Sammelpunkt ein, der nicht weit entfernt lag vom Bahnhof.
Mehr als 30.000 Menschen waren gekommen, statt der von den SS-Führern erwarteten 6000. Zu Fuß, bewacht von bewaffneten Soldaten, zog die Kolonne einige Kilometer bergauf zum damaligen Stadtrand. Viele Juden ahnten offenbar bis zuletzt nicht, welches grausame Schicksal sie erwartete. Die Deutschen hatten die 2,5 Kilometer lange und bis zu 30 Meter tiefe Schlucht Babyn Jar bereits mit Stacheldraht umzäunt. Sie teilten die Juden in kleine Grüppchen ein und registrierten sie. Sie mussten ihre Wertgegenstände ablegen, dann ihre Kleidung und dann sollten sie sich in der Schlucht mit dem Gesicht auf den Boden legen. Die Deutschen stellten sich hinter sie und töteten sie mit Genickschüssen.
Die nächste Gruppe musste sich auf die bereits Getöteten legen. Geschrei und Panik brach aus, als die Leute beim Blick in die Schlucht verstanden, was vor sich ging. Um die Schreie und Schüsse zu übertönen beschallten die SS-Mörder den Ort der Massenexekution mit Opernmusik.
Gemordet wurde im Schichtbetrieb. 36 Stunden, 33.771 Tote, penibel dokumentiert von der Einsatzgruppe C. Danach sprengte man die sandigen Hänge ab, um die Leichen zu bedecken. Nicht alle waren beim ersten Schuss getötet worden. Kriegsgefangene sollten Tote wie Lebende mit dem abgesprengten Geröll zuschütten. Noch lange bewegte sich, wie Augenzeugen berichteten, die Erde.
SS-Obergruppenführer Heydrich schrieb später in einem Bericht an Hitlers Außenminister von Ribbentrop: „Als Vergeltungsmaßnahme für die Brandstiftungen in Kiew wurden sämtliche Juden verhaftet und am 29. Und 30.9. insgesamt 33.771 Juden exekutiert. Geld, Wertsachen und Bekleidung wurden sichergestellt." An dem Massaker waren neben der Wehrmacht und Einheiten der SS auch einheimische ukrainische Hilfswillige und Nationalisten beteiligt. Bereits Ende Juni 1941 hatte Jaroslaw Stezko, einer der Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), im westukrainischen Lwiw die Unabhängigkeit des Landes deklariert. Man werde eng mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiten, die unter der Führung von Adolf Hitler ein neues Europa aufbauten und der ukrainischen Nation helfen würden, sich von der Moskauer Besatzung zu befreien, verkündete er.
Hitler hatte bekanntermaßen andere Pläne für die eroberten Gebiete und so wurde Anfang 1942 Stezko und bereits im Juli 1941 wurde der ukrainische Nationalistenführer Bandera im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin inhaftiert. Der Reichskommissar in der Ukraine, Erich Koch, offenbarte in einem Schreiben: „Es gibt keine freie Ukraine. Für die Haltung der Deutschen im Reichskommissariat ist der Standpunkt maßgebend, dass wir es mit einem Volk zutun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist."
In den folgenden Monaten erschossen die deutschen Besatzer in Babyn Jar weitere Tausende Zivilisten, darunter Roma, Kriegsgefangene, psychisch Kranke, Partisanen, Kommunisten und ukrainische Nationalisten. Wie viele Menschen in der Schlucht genau zu Tode kamen, ist nicht genau bekannt. Denn als die Rote Armee nach ihren kriegsentscheidenden Sieg in der Schlacht um Stalingrad Anfang 1943 gen Westen vorrückte, brach unter den Deutschen Panik aus.
D er studierte Architekt und SS-Standartenführer Blobel ordnete die sogenannte „Enterdungsaktion" an. Es galt Spuren zu verwischen. Am 18. August 1943 wurden einige Hundert Gefangene aus dem naheliegenden Konzentrationslager herbeigeholt. In der Schlucht wimmelte es von aufgeregten deutschen Soldaten und SS-Angehörigen. Es lag Werkzeug herum. Die Besatzer legten den Gefangenen Ketten an, drückten ihnen jeweils eine Schaufel in die Hand und befahlen zu graben. Tagelang gruben sie Leichen aus, immer mehr Gefangene wurden herbeigeholt, um die verschiedenen Schichten der ins sich verschlungenen Ermordeten noch rechtzeitig aus der Erde zu bekommen, bevor die Rote Armee die Stadt zurückerobern konnte.
Die Deutschen ertränkten den Anblick der verwesten Leichen ihrer Opfer mit Wodka, während sie in den Schichten Ermordeter nach Stiefeln oder Wertgegenständen suchen ließen. Denn nur die unterste Schicht der Leichname, die Juden nämlich, waren nackt erschossen worden. Die Gefangenen stapelten die menschlichen Überreste auf nahegelegenen Eisenbahnschienen und verbrannten sie. Anschließend wurden auch sie erschossen. Nur wenigen gelang die Flucht.
SS-Standartenführer Paul Blobel wurde später in den Nürnberger Prozessen angeklagt, zum Tode verurteilt und anschließend gehängt. Acht weitere Mitglieder des Sondereinsatzkommandos 4a wurden 1968 zu langen Haftstrafen verurteilt. Stadtkommandant Kurt Eberhard beging 1947 in amerikanischer Haft Selbstmord. SS-Brigadeführer Otto Rasch schied krankheitsbedingt von den Verfahren in den Nürnberger Prozessen aus und starb 1948. Von den beteiligten Wehrmachtssoldaten wurde juristisch keiner belangt.
Die sowjetische Regierung unternahm unterdessen alles, um den Ort des Grauens verschwinden zu lassen. Ein Gedenken an die Opfer war unter Stalins Herrschaft nicht vorgesehen, Antisemitismus war ebenfalls weit verbreitet. Nach und nach schüttete man die Schlucht mit einer Mischung aus Ton, Sand, Wasser und den Produktionsresten einer nahegelegenen Ziegelfabrik zu und baute Straßen darüber.
Doch im Frühling 1961 brach ein Damm auf dem Gelände, eine Schlammlawine überrollte Kiew, in ihr: Leichenreste und Knochen. Schätzungsweise 1.500 Menschen wurden von den Schlammmassen getötet. Die sowjetische Regierung unter Chruschtschow versuchte auch das zu vertuschen.
Im selben Jahr, zum 20. Jahrestag des Massakers der Deutschen an den Juden von Kiew, veröffentliche der russische Dichter Jewgenij Jewtuschenko ein Gedicht, in dem er den grassierenden Antisemitismus in der Sowjetunion kritisierte und anklagte: „Über Babij Jar steht kein Denkmal." Damit hatte er schnell eine heftige Debatte entfacht. „Was bist du für ein Russe?", wurde er von anderen sowjetischen linientreuen Dichtern beschimpft. Man sollte nicht den Juden, sondern den Russen in Babyn Jar ein Denkmal bauen, denn es habe viele Babyn Jars gegeben, wo Russen und nicht Juden erschossen wurden, hieß es.
Einige Jahre später erst wurde die erste Gedenktafel angebracht - für die „friedlichen Sowjetbürger", die einst hier ermordet wurden. In den sechziger und siebziger Jahren war es in der Sowjetunion noch verboten, Kränze mit jüdischen Symbolen an Orten der Massenerschießung niederzulegen, weil es als antisowjetische Agitation galt. Erst mit der Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde 50 Jahre nach dem Massaker der ermordeten Juden auf einer eigenen Tafel gedacht.
Seitdem sprießen Gedenktäfelchen wie Pilze aus dem Boden, wild und unkoordiniert. Mehrere Duzend befinden sich heute an diesem unscheinbaren Ort, an dem kaum etwas an die Massenmorde und Gräuel von damals erinnert. Juden, Roma, ukrainische Nationalisten, Partisanen, Kommunisten, Kriegsgefangene - sie alle haben ihre eigene Tafel. Von einer richtigen Gedenkstätte zu sprechen, scheint übertrieben.
Seit der Unabhängigkeit ringt das Land um seine Identität. Und Geschichtspolitik ist ein geeignetes Mittel, eben jene zu stärken. Über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wird seitdem gestritten. Man ist sich uneins über ein geschichtspolitisches Narrativ. Einerseits verlieh der westlich orientierte Präsident Wiktor Juschtschenko 2010 dem Nationalistenführer Stepan Bandera den Titel „Held der Ukraine". Andererseits holte der jüdische Oligarch Wiktor Pintschuk vor fünf Jahren eine Ausstellung nach Kiew, welche die Massenerschießung von Juden in der Ukraine thematisierte.
Anfang des Jahres ließ der jüdische Regierungschef Wolodymyr Hrojsman, dessen Großvater den Holocaust überlebte, indem er sich während einer Massenexekution totstellte, im Parlament eine Gedenkminute für die Opfer der Shoah abhalten. Ein Novum. Zudem hat man sich dieses mal vorbereitet auf den Jahrestag des Massakers. Mehr als eine Million Euro sollen in Grünanlagen, Wege und die Sanierung der Gedenkstätten investiert worden sein.
Kiews Bürgermeister Witalij Klitschko sagte: „Wir müssen uns daran erinnern, was hier geschah, damit die Fehler der Vergangenheit sich nicht noch einmal wiederholen." Er halte es für seine Mission als Bürgermeister Kiews, eine Gedenkstätte für die Opfer von Babyn Jar zu realisieren. Welchen Platz die Verbrechen der Nazis und ihrer Kollaborateure in der ukrainischen Erinnerungskultur bekommen, darüber wird nach wie vor gestritten.