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Transformiert euch!

In ganz Europa scheinen progressive, ehemals stolze und gesellschaftlich breit verankerte Parteien vor den gleichen Herausforderungen zu stehen: Ihnen laufen die Mitglieder weg, in den Augen großer Teile der Öffentlichkeit haben sie nicht mehr die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft - und mit ihren internen Strukturen vom Ortsverein bis hin zu ihren Spitzengremien sind sie oft zu behäbig, altbacken und zu männlich.

Auch die SPD kommt in der öffentlichen Beurteilung derzeit nicht gut weg. Die Gründe scheinen schnell ausgemacht - die Partei ist personell ausgelaugt und programmatisch nicht mehr erkennbar. Ein weiterer bislang wenig beachteter Aspekt: Die Organisation der Partei selbst. Es braucht dringend eine Modernisierung der Organisations- und Management-Strukturen.

Interessanterweise stehen die großen Industriekonzerne oftmals vor sehr ähnlichen Herausforderungen. Auch wenn die Modernisierungsfähigkeit von Unternehmen individuell betrachtet werden muss, so scheinen sie insgesamt aber weiter entwickelt als Parteien. Gerade deswegen können sie zu einem wichtigen Impulsgeber werden.

Großkonzerne haben begriffen, dass ihre Geschäftsmodelle und somit ihre bloße Existenz von der Digitalisierung und neuen Ansprüchen der Konsumierenden in Frage gestellt werden. Vor diesem Hintergrund wurde das Innovationsmanagement zu einer der tragenden Säulen aller Unternehmen, die sich entschlossen haben, die rasanten Entwicklungen unserer Gegenwart aktiv mit zu gestalten. Progressive Parteien können sich hier eine Menge abschauen.

Allen Wahlkampfmanagern in der Parteizentrale war klar, dass sie einen Nerv getroffen haben. Nicht nur wurden ihnen neue Lösungen für politische Probleme auf dem Servierteller präsentiert, nebenbei erschlossen sie sich neue Wählergruppen.

Während der Kampa 2017 wurde unter der Federführung der damaligen Generalsekretärin Katarina Barley ein Hackathon im SPD-Parteivorstand organisiert. Die Veranstaltung lud Programmiererinnen und Programmierer ein, gemeinsam an digitalen Lösungen zu arbeiten, die der SPD für den damals beginnenden Wahlkampf an die Hand gegeben werden sollten. Der Hackathon war ein voller Erfolg. Auf die wenigen verfügbaren Plätze haben sich zahlreiche Programmierer beworben, darunter auch Interessenten aus dem Silicon Valley. Allen Wahlkampfmanagern in der Parteizentrale war klar, dass sie einen Nerv getroffen haben. Nicht nur wurden ihnen neue Lösungen für politische Probleme auf dem Servierteller präsentiert, nebenbei erschlossen sie sich neue Wählergruppen. Ansätze wie dieser Hackathon wurden jedoch nicht weiterverfolgt und versandeten kläglich. Rezo lässt grüßen.

In der Wirtschaft sind Hackathons schon lange üblich. Neu war 2017 nur, solche Ansätze nun auch in der Politik auszutesten. Jenseits dieser punktuellen Aktion eines Programmier-Workshops stellt sich die Frage, was progressive Parteien von modernen Organisationsstrukturen aus der Wirtschaft noch lernen können?

Viele Großkonzerne unterhalten eigene Innovationseinheiten, so zum Beispiel der Innovation Hub der Lufthansa, next47 von Siemens, das Innovation Center Network von SAP oder der Hubraum, der Technik-Inkubator der Telekom. In allen diesen Fällen handelt es sich um Räume, in denen Jungunternehmerinnen und -unternehmer sowie kreative Köpfe an einer Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen arbeiten, die das Zeug dazu haben, auch den Mutterkonzern voranzubringen.

Voraussetzung: Der Kreativität werden keine Grenzen gesetzt. Es ist nicht nur erlaubt, sondern gar gefordert, keinen Stein auf dem anderen zu lassen und auch neue, vielleicht noch unausgereifte technische Innovationen mitzudenken. Das Ziel dieser Innovationseinheiten ist es, letztendlich neue, unkonventionelle Lösungen zu entwickeln. Oft sind diese Ideenräume direkt am Vorstand oder einer anderen Leitungsebene angesiedelt, um nicht in die Mühlsteine der Arbeitsebene hineingezogen zu werden, wo sie zwischen bestehenden Besitzansprüchen und Hierarchiegerangel zerrieben würden.

Was könnte ein Innovation-Hub für eine Partei leisten? Er könnte das flinke und äußerst rangierfähige Beiboot zum großen Parteitanker sein, ein experimenteller Raum, in dem frei gedacht und ausprobiert werden darf.

Was könnte ein Innovation-Hub für eine Partei leisten? Er könnte das flinke und äußerst rangierfähige Beiboot zum großen Parteitanker sein, also ein experimenteller Raum, in dem - online und offline - frei gedacht und ausprobiert werden darf. Die Leitfrage muss dabei sein, wie es progressive Parteien schaffen, solche Innovationen besser als bislang nutzbar zu machen, die außerhalb der eigenen Parteimauern stattfinden. Das Spektrum möglicher Fragestellungen muss breit gedacht werden, von neuen digitalen Partizipationsformaten, über strukturelle Fragen, die mutig die Organisationsformen einer Partei neu denken bis hin zur Herausforderung, wie der zähe und intransparente Prozess der Programmentwicklung entschlackt werden kann.

Die Liste ließe sich ohne Weiteres fortsetzen. Neue Ansätze könnten zunächst selektiv in einem Ortsverein oder Landesverband ausgetestet werden, um sie im Bedarfsfall größer zu denken. Wichtig ist, dass ein solches Ideenlabor direkt am Parteivorstand verortet ist. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass ein Parteivorstand in der Pflicht steht, einen solchen Innovation-Hub nicht nur als nettes Beiwerk zu behandeln, sondern als zentralen Dreh- und Angelpunkt einer konsequenten Erneuerung und Modernisierung.

Wir leben in einer Netzwerkgesellschaft. Neue Ideen entstehen nicht mehr im Hinterzimmer unter Beteiligung einiger Weniger, sondern vielmehr im Verbund eines breiten Ökosystems von diversen Interessenvertretern und Impulsgebern. Um die komplexen Veränderungen unserer Zeit aktiv mitgestalten zu können, ist es aber erforderlich, das Feld an relevanten Organisationen zu kennen, um es schließlich nutzbar zu machen.

Insbesondere Parteien wie die SPD haben hierbei mit ihren hunderttausenden Mitgliedern einen ungeahnten und ungehobenen Schatz! Denn hinter jedem einzelnen Mitglied stehen eigene Netzwerke und Organisationen. Ein Mitglied wird zum wichtigen Multiplikator. Mit einem professionellen „CRM-Tool" könnten endlich alle Mitglieder und ihre Expertise sowie ihre Netzwerke systematisch erfasst werden, um sie mit der Arbeit einer Partei zu verknüpfen. CRM steht für Customer-Relationship-Management und ist für Wirtschaftsunternehmen ein essentieller Faktor, um Kunden besser zu verstehen.

Ein CRM erfasst die Soziodemographie, aber auch Wünsche und Vorlieben und bisherige Interkationen von Nutzern. So gelingt es Unternehmen, mit einem CRM-System auf die Bedürfnisse angepasste Ansprachen in Mailings zu platzieren oder auch Produkte anzubieten, die Kunden wirklich interessieren. Bislang nutzt die SPD beispielsweise die sogenannte Mavis-Datenbank, in der alle Mitglieder aufgeführt sind. Letztendlich handelt es sich dabei um ein einfaches und unterkomplexes digitales Telefonbuch, das den Ansprüchen einer modernen Netzwerkorganisation nicht mehr gerecht wird.

Große Organisationen, die sich mit einer hohen Themenvielfalt in dynamischen Umfeldern bewegen, arbeiten heute agil: Die Verantwortung wird vom Management hin zur eigenverantwortlichen Teamarbeit weiterentwickelt.

Unternehmen leisten sich oft eigene „Outreach-Manager", also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder sogar ganze Teams, deren Jobs ausschließlich darin bestehen, den Kontakt mit dem eigenen Netzwerk zu professionalisieren.

Das Thema mag technisch klingen, bedient aber letztendlich eine der größten Leerstellen traditioneller Parteien: Zu Zeiten von Brandt und Schmidt war die SPD bekannt dafür, dass sie den Umgang mit Unterstützern - ob Wissenschaftler, Aktivisten oder Kulturschaffende -aktiv gesucht und in die Parteiarbeit eingebunden hat. Unterstützerwahlkämpfe der jüngeren Vergangenheit verliefen hingegen sehr ernüchternd. Wichtige Multiplikatoren wurden lediglich alle vier Jahre kontaktiert, um sie punktuell für Wahlkämpfe einzuspannen. Während einer Legislatur passierte wenig. Das Feedback, das viele Unterstützer letztendlich äußerten, war nicht verwunderlich: „Warum meldet Ihr Euch nur alle vier Jahre?!" Ein CRM-System kann hier Abhilfe leisten.

Große Organisationen, die sich mit einer hohen Themenvielfalt in dynamischen Umfeldern bewegen, arbeiten heute agil. Agil, das heißt, die Verantwortung vom Management hin zur eigenverantwortlichen Teamarbeit weiterzuentwickeln unter Vorgabe klarer Ziele und Leitlinien. Der Schlüssel zum Erfolg sind hierbei sogenannte Circles, in denen die Teamarbeit stattfindet. Für Parteien könnten solche „Arbeitsräume" das Engagement von Ortsvereinen ergänzen. Was heißt das konkret:

In Ergänzung zu der ortsgebundenen Struktur eines Ortsvereins könnte jedes Mitglied in einem Circle seiner Wahl aktiv werden. Die bisher zwingende regionale Verortung für das Engagement eines Parteimitglieds würde also um eine dezentrale Komponente aufgewertet werden. So kann ein Mitglied in Mülheim an der Ruhr genauso im Circle „Zukunft der Pflege" aktiv sein wie ein Mitglied aus Dresden. Das Thema bildet den Rahmen und nicht etwa die regionale Verortung.

Innovation Hubs, Alliance-Building und Agiles Arbeiten sind drei konkrete Vorschläge, um progressive Parteien als Großorganisation endlich im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen.

Essentiell ist hierfür die Bereitstellung einer technischen Infrastruktur, die ein solch dezentrales und „grenzenloses" Mitarbeiten möglich macht. Technische Anwendungen gibt es zur Genüge. Sie ermöglichen es, gemeinsame Konferenzen digital abzuhalten, Protokolle und Papiere zu sichern und gemeinsam an ihnen zu arbeiten - ganz einfach und von überall.

Solche Circle sind keine in Stein gemeißelten Institutionen. Sie entstehen und lösen sich nach Bedarf auf. Je nachdem, welche Ziele sich ein Circle auf die Fahnen schreibt, können sich diese Arbeitsräume nach getaner Arbeit wieder auflösen. Bei der Zielformulierung eines Circles ist es wichtig, dass zunächst Oberziele formuliert werden, welche anschließend durch operative Maßnahmen unter Benennung konkreter Verantwortlichkeiten untermauert werden. So kann sich jedes Mitglied einbringen und weiß genau, wo er oder sie einen Beitrag zum Gelingen leistet.

Agiles Arbeiten ist übrigens für viele engagierte und insbesondere junge Menschen bereits heute gelebte Realität. Soziales Engagement findet nicht mehr langfristig und entlang bestehender Institutionen statt, sondern oftmals zeitlich befristet entlang konkreter Zwecke. „Projekt" ist hier das Zauberwort, das insbesondere solchen Menschen ein soziales oder politisches Engagement ermöglicht, die aufgrund wechselnder Wohnorte nicht im Stande sind, sich langfristig in gegebenen Ortsvereinsstrukturen zu engagieren.

Innovation Hubs, Alliance-Building und Agiles Arbeiten sind drei konkrete Vorschläge, um progressive Parteien als Großorganisation endlich im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen. Eine solche Transformation ihrer Organisationsstrukturen wird sich als wichtiger Baustein erweisen, um einerseits die Mitglieder der Partei endlich und wirklich zu aktivieren und andererseits auch das gesellschaftliche Vorfeld von Unterstützern und Netzwerken nutzbar zu machen und damit neue programmatische Impulse zu setzen.

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