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Mut zum Mitmachen

Der Vorwurf, die Politik schließe Bürgerinnen und Bürger von öffentlichen Debatten aus, hat in Zeiten des Populismus wieder Hochkonjunktur. Was ist wirklich daran? Die Partizipationsmöglichkeiten sind vielfältiger als jemals zuvor: Es bräuchte nur etwas mehr Motivation!

Politiker treffen ihre Entscheidungen im stillen Kämmerlein, also über die Köpfe derjenigen hinweg, die mit den Konsequenzen leben müssen. Mitspracherecht? Fehlanzeige. Es ist dieser allseits bekannte Vorwurf der politischen Exklusion, der Unmöglichkeit bürgerlicher Einmischung in den politischen Prozess, der gerade wieder in Mode kommt - und besonders gerne von Populisten aufgegriffen wird. Doch ist dieser Vorwurf berechtigt? Ich meine: nein!

Denn wer die mangelnde Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beklagt, der blendet aus, dass es heutzutage bereits zahlreiche Möglichkeiten gibt, sich einzumischen und mitzugestalten. Politische Aushandlungsprozesse sind heute so transparent und offen wie niemals zuvor, insbesondere in Deutschland. Öffentliche Einrichtungen wie der Bundestag oder das Europäische Parlament nehmen ihre Rolle als offene Häuser ernst und führen regelmäßig im gesamten Bundesgebiet Dialogveranstaltungen durch, um mit Bürgern ins Gespräch zu kommen; staatlich finanzierte Organisationen wie die Bundeszentrale für politische Bildung oder die parteinahen Stiftungen haben sich seit vielen Jahren der politischen Bildungsarbeit verschrieben; Gewerkschaften und Verbände sind nicht nur zentrale Akteure für die Ausgestaltung sozial- und wirtschaftspolitischer Angelegenheiten. Sie betreiben auch wichtige Mitgliederarbeit und sind durch ihre föderale Struktur, zumindest theoretisch, tief in der Gesellschaft verankert. Weiterhin gibt es die privat organisierte und finanzierte Zivilgesellschaft. Think Tanks, NGOs und zahlreiche Stiftungen beschränken sich keineswegs ausschließlich auf ihre Rolle als Wissensvermittler oder Interessenvertreter. In vielen Projektformaten geht es darum, Menschen für gesellschaftliche Anliegen zu mobilisieren. Und nicht zu vergessen: Parteien. Qua Grundgesetz haben sie den Auftrag an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Mit ihren Landesverbänden, Bezirken und Ortsvereinen bieten sie jedem und überall einen Raum für Debatte und Mitbestimmung.

Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet, sich auf komplexe Sachzusammenhänge einzulassen

Nüchtern betrachtet muss vielmehr festgestellt werden, dass die Probleme weniger auf der Angebots- als auf der Nachfrageseite liegen. Trotz ihrer beteiligungsorientierten Angebote finden viele der genannten Organisationen wenig Anklang. In vielen Fällen müssen öffentlich zugängliche Workshops, Seminare, Vereinsversammlungen, Mitgliedertreffen oder Ortsvereinssitzungen kleinteilig beworben werden, bleiben am Ende aber dann doch nur spärlich besucht. Das hat auch damit zu tun, dass Beteiligung zwar schnell gefordert wird, dann letztendlich aber doch ein mühseliges Geschäft ist. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet nämlich auch immer, sich auf komplexe Sachzusammenhänge einzulassen, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung zu stellen, seine eigenen Überzeugungen argumentativ zu untermauern und, fast am wichtigsten, gegenteilige Auffassungen von Gesprächspartnern zu akzeptieren und auf dieser Grundlage Kompromisse auszuloten. Nicht wenigen vergeht da die Lust aufs Mitmachen.

Dabei ist es keineswegs zu bestreiten, dass Politik und Zivilgesellschaft eine kritische Bestandsaufnahme nötig haben, insbesondere was die Themen Organisationsstruktur und Innovation anbelangt. Doch nach Beteiligung zu rufen und gleichzeitig den vielen wichtigen Akteuren aus Politik und Gesellschaft den Rücken zu kehren beziehungsweise nicht mal Kenntnis von ihnen zu nehmen, könnte widersprüchlicher nicht sein. Es gilt also, konsequent mit dem Mythos mangelnder Beteiligungsmöglichkeiten aufzuräumen.

Dem menschenfeindlichen Populismus sollte jeder Einzelne das eigene Engagement entgegensetzen

Insbesondere all diejenigen, die eine offene und liberale Gesellschaft lebens- und erhaltenswert finden, sollten spätestens jetzt aus ihrer Komfortzone heraustreten und die existierenden Beteiligungsräume endlich nutzen. Dem menschenfeindlichen Populismus und dem Vorwurf der politischen Exklusion sollte jeder Einzelne das eigene Engagement entgegensetzen. In der sich immer mehr polarisierenden Auseinandersetzung über die grundlegenden Fragen unseres gesellschaftlichen Miteinanders geht es auch immer um Mobilisierungsfähigkeit, das Erringen von Deutungshoheit und damit auch um die Teilhabe des Einzelnen an öffentlichen Debatten und Aushandlungsprozessen.

Es wäre eine leichtfertig vergebene Chance, wenn der Skeptizismus gegenüber etablierten Organisationen und Strukturen der dringend notwendigen Bürgerbeteiligung im Wege stünde. Laut jüngst veröffentlichter Statistiken treten in Deutschland gerade wieder mehr Menschen in Parteien ein. Das lässt darauf hoffen, dass wir unsere Lust am Mitmachen doch noch wiederentdecken. An Möglichkeiten mangelt es zumindest nicht.

Der Kommentar erschien in der Ausgabe 2/2017 der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH . Eine andere Position zu diesem Thema von Claudine Nierth erscheint hier am 22. Juni.

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