Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Gezielter Crash: Die Internationale Raumstation soll ins Meer stürzen

 Gezielter Crash: Die Internationale Raumstation soll ins Meer stürzen


Die Ära der internationalen Zusammenarbeit im Weltraum geht zu Ende. Damit die ISS nicht zur tödlichen Gefahr wird, planen die Raumfahrtagenturen einen spektakulären Absturz.


Seit 26 Jahren leben und forschen Menschen aus vielen verschiedenen Ländern auf der Internationalen Raumstation (ISS), doch die Ära dieser beispiellosen Zusammenarbeit neigt sich dem Ende zu. Die Station ist nicht für die Ewigkeit gebaut, und der Betrieb kostet in jedem Jahr mehrere Milliarden Dollar. Regelmäßig diskutieren die ISS-Partner, ob sie das Projekt fortführen wollen, schließlich gibt es noch weitere teure Vorhaben wie die Rückkehr zum Mond. Allerdings kann man die ISS nicht einfach aufgeben. Daher wird nun ein Plan entwickelt, wie man die Station mit einem gezielten Absturz sicher im Ozean versenken kann.

Gigantische Investitionen würden dabei vernichtet werden. Die ISS ist das teuerste je von Menschen gebaute Objekt, allein die Kosten für den „westlichen Teil“ werden auf weit mehr als 100 Milliarden Dollar geschätzt. Sie ist zudem das größte je gebaute Objekt im All: 450 Tonnen schwer, 108 mal 80 mal 88 Meter groß.
Gefahr für bewohnte Gebiete

Was aber tut man mit einem solchen Konstrukt, wenn man es in den Ruhestand schicken will? Einfach gar nichts zu tun, ist keine gute Option. Denn auf ihrer Umlaufbahn in 400 Kilometern Höhe gibt es noch einen Rest Atmosphäre, die die ISS minimal bremst und dadurch absacken lässt. Das wird bislang durch regelmäßige Triebwerkszündungen ausgeglichen, durch die sie wieder an Höhe gewinnt.

Ohne solche Manöver würde sie immer weiter absacken und in der dichter werdenden Atmosphäre immer weiter abgebremst werden. Beim Eintauchen in dichtere Luftschichten würden zuerst Solarpaneele und schließlich einzelne Module abreißen, am Ende vermutlich auch die Haltestruktur zerbrechen. Das folgern Fachleute aus den gezielten Abstürzen anderer Raumfahrtobjekte wie der Station „Mir“ und „Skylab“.

Ein großer Teil des Materials würde bei einem Absturz verdampfen, doch einige Reste blieben erhalten, bis sie die Erdoberfläche erreichen. Über bewohntem Gebiet könnte das verheerend sein, und die Gefahr ist sehr real: Die ISS überstreicht mit ihrer Umlaufbahn von 51,6 Grad gegen den Äquator rund 90 Prozent der Weltbevölkerung.

Die Nasa hat daher verschiedene alternative Optionen durchgespielt. Eine sah vor, die ISS bis in 36.000 Kilometer Höhe zu bringen, wo sie als Museum auf ewig sicher um die Erde kreisen würde. Das wurde als zu teuer verworfen. Die Station nur ein wenig anzuheben, wurde ebenfalls abgelehnt: Sie würde in absehbarer Zeit zerfallen und die umherfliegenden Teile würden Satelliten und Astronauten gefährden. Als weitere Alternative wurden Raumfahrtunternehmen gefragt, ob sie Teile für ihre künftigen Stationen weiter nutzen wollen. Auch hier gab es keine ernsthafte Antwort, wie die „Planetary Society“ berichtet.

Die ISS ist das teuerste Objekt, das je von Menschen erbaut wurde, allein die Kosten für den „westlichen Teil“ werden auf weit mehr als 100 Milliarden Dollar geschätzt. Sie ist zudem das größte je gebaute Objekt im All: 450 Tonnen schwer, 108 mal 80 mal 88 Meter groß. In einer Höhe von 400 Kilometern kreist sie um die Erde und benötigt 94 Minuten für einen Umlauf.

Stattdessen soll die ISS nun im Meer versinken, so hoffen jedenfalls die Verantwortlichen. Der gezielte Absturz ist nach ihrer Einschätzung der beste Weg, um die ISS nach Betriebsende zu entsorgen. Der sogenannte De-Orbit ist anspruchsvoll, schließlich sollen herabstürzende Trümmerteile nichts und niemandem gefährlich werden. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat die Nasa einen Wettbewerb gestartet, um ein Antriebsmodul zu finden, das die alternde Station auf den rechten Kurs zum Raumfahrtfriedhof im Südpazifik bringt. Die Industrie ist aufgerufen, entsprechende Vorschläge bis zum 12. Februar 2024 einzureichen, im Frühjahr soll entschieden werden, wer mit der Entwicklung beauftragt wird.
Weit weg von allen Küsten

Beim gezielten Crash gilt es, im entscheidenden Moment des natürlichen Abstiegs Triebwerke zu zünden, damit die Fragmente möglichst im Südpazifik niedergehen, wo es kaum Verkehr und Menschen gibt. Das Zielgebiet ist „Point Nemo“, der am weitesten von Festländern entfernte Punkt. Mindestens 2688 Kilometer sind es von dort bis zu den nächsten Küsten.

Dieses Szenario ist schon heute der Notfallplan, sollte die ISS schwer beschädigt werden. „Dazu könnte es zum Beispiel kommen, wenn es ein großes Loch gibt und sich innen der Luftdruck nicht wiederherstellen lässt“, sagt Frank De Winne, Leiter des Esa-Astronautenzentrums in Köln. Dann würde man sofort versuchen, die Station in den Südpazifik zu versenken.

Einschließlich des natürlichen Höhenverlusts würde das einige Wochen bis Monate dauern. Als finaler Booster sind bisher russische Transportraumschiffe vom Typ „Progress“ vorgesehen. Doch wegen der angespannten Situation mit Russland will sich die Nasa darauf nicht länger verlassen, berichtet das Magazin „Scientific American“. Womöglich beendet das Land die Zusammenarbeit und stellt nicht die Frachter zur Verfügung, fürchten die Fachleute. Zudem ist es anspruchsvoll, voraussichtlich drei „Progress“ zu koordinieren.

Mit dem „U.S. Deorbit Vehicle“, das nun gefunden werden soll, machte man sich unabhängig. „Die Erfahrung zeigt, dass Redundanz in der Raumfahrt immer sinnvoll ist“, sagt De Winne. Die Esa beteiligt sich bisher aber nicht an dem Projekt, das schätzungsweise knapp eine Milliarde Dollar kosten wird.

In jedem Fall dürfte der De-Orbit der ISS eine der spektakulärsten Entsorgungsaktionen der Geschichte werden. Und wenn dabei etwas schiefgeht? Grundsätzlich haftet das Land, das ein Objekt ins All schickt. Bei Satelliten ist das einfach, aber bei einem Ensemble wie der Raumstation, die aus Modulen unterschiedlicher Herkunft besteht, wird es komplex. „Dann ist es sinnvoll, wenn sich die Partner auf eine Nation einigen, die die Verantwortung übernimmt“, sagt Stephan Hobe, Weltraumrechtler an der Universität zu Köln. Für die ISS habe das Frankreich getan. „Ich denke, dass es eine Art Innenausgleich geben wird, bei dem die übrigen Partner Frankreich unterstützen, sollte es zu einem Schaden kommen.“
Keine Lücke bei der Forschung

Etwas Zeit haben die Ingenieure noch. Die russische Raumfahrtagentur Roskosmos hat eine Beteiligung an der ISS bis 2028 zugesichert, die Nasa plant gar bis 2030, die Raumfahrtagenturen in Europa, Kanada und Japan unterstützen. Eine Verlängerung ist wahrscheinlich, denn die Nasa verfolgt eine „No-Gap-Strategie“: Die ISS soll so lange betrieben werden, bis Nachfolger einsatzbereit sind und somit keine Lücke für Forschung im erdnahen Raum entsteht. Dies wird keine große staatlich finanzierte Station mehr sein, sondern ein oder mehrere kleinere Module, die Firmen ins All bringen und betreiben. Die Agenturen mieten sich dort nur noch ein.

Wann genau Schluss ist mit der ISS, ist daher nicht absehbar. Ein vorzeitiges Ende wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine erscheint derzeit unwahrscheinlich. Nasa und Esa wollen weiter mit Russland kooperieren, um die Station nutzen zu können. Es könnte sogar noch weit in die 2030er-Jahre hinein gehen, zumindest aus technischer Perspektive. Zwar sind manche Bauteile inzwischen mehr als 20 Jahre da oben. „Nach heutigem Kenntnisstand wäre ein Betrieb bis 2036 oder auch 2038 möglich“, sagt Frank De Winne.

Was den Teilen vor allem zusetzt, seien Andockmanöver, die das Weltraumgebäude erschüttern, sowie thermische Beanspruchung durch Sonneneinstrahlung und Schatten. Derzeit gebe es aber keinen Grund zur Sorge, vielmehr werden beispielsweise Solarpaneele und IT-Anlagen erneuert, um die ISS länger nutzen zu können.

Was bleiben wird von der Station, ist der Versuch einer Partnerschaft zweier Großmächte. Gerade in den Anfangsjahren – erste Teile wurden 1998 in den Orbit gebracht, seit Ende 2000 ist sie dauerhaft besetzt – haben Russland und die USA mit ihren Partnern harmonisch und zugewandt kooperiert. Spätestens mit dem Überfall auf die Ukraine heißt es „Augen zu und durch“. Das Image des verbindenden Himmelsprojekts hatte bereits zuvor unter dem Ausschluss Chinas gelitten.

Noch um 2010 gab es viele gemeinsame Vorhaben, europäische Astronauten lernten bereits Chinesisch für eventuelle Missionen. Doch ein Beschluss des US-Kongresses verbietet der Nasa Kooperationen mit China, so blieb die aufstrebende Weltraummacht draußen. Inzwischen ist die Zahl der Raumfahrtakteure zwar weiter gewachsen – man denke an Indien oder viele private Initiativen. Sie agieren aber weitgehend in ihren gewohnten Kreisen. Eine inspirierende multinationale Kooperation, die den Menschheitszielen Mond und Mars dienen würde, ist derzeit nicht erkennbar.

Erschienen am 22. Januar 2024.
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