Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Artikel

Von der Altlast zum Rohstoff: So könnte Atommüll für Strom und Wärme sorgen

Mit Transmutation ließen sich schädliche radioaktive Substanzen „entschärfen“ und zudem Energie gewinnen. Doch noch gibt es etliche Probleme. Und ein Endlager braucht man wohl trotzdem. 


Im April ist Deutschland aus der Stromerzeugung mittels Kernenergie ausgestiegen. Was bleibt, sind hoch radioaktive Abfälle. Eigentlich sollte bis 2031 ein Ort für ihre Endlagerung gefunden sein, was Fachleute jedoch schon länger bezweifelten. Ende vergangenen Jahres teilte die Bundesgesellschaft für Endlagerung mit, dass es damit in einem schnellen Szenario bis 2046 klappen könnte, in einem langsamen erst 2068.

Kalkuliert man weitere Verzögerungen ein – etwa durch fehlende Akzeptanz der Bevölkerung – und den eigentlichen Bau der Untertagedeponie, ist klar: Es wird noch etliche Jahrzehnte dauern, ehe der Atommüll fortgeschafft ist.

Daher könnte sich eine alternative Methode der Abfallbehandlung lohnen: die Transmutation. Noch ist sie technisch nicht ausgereift, aber mit etwas Zeit, Forschungsarbeit und Kapital könnte sie die Endlagerung zumindest vereinfachen, sagen Verfechter. Bei diesem Verfahren werden bestimmte instabile Elemente aus verbrauchten Brennelementen herausgelöst und mit Neutronen beschossen, worauf sie sich durch radioaktiven Zerfall in andere Elemente umwandeln: transmutieren.

So ließe sich zusätzliche Energie und Wärme gewinnen und zugleich die Menge an radioaktivem Abfall erheblich verringern, weil die Spaltprodukte weniger lange oder gar nicht strahlen. Endlager könnten kleiner gebaut werden und müssten nur noch einige Jahrhunderte dichthalten, statt einer Million Jahre.

Die Idee für eine solche Entschärfung von Atommüll ist alt und es gibt diverse Konzepte. Besonders hohe Sicherheit versprechen sogenannte „unterkritische“ Reaktoren. In einem gewöhnlichen Kernreaktor ist die Menge an spaltbarem Material überkritisch. Das heißt, die Kernspaltung erhält sich selbst aufrecht. Bei jeder Spaltung entstehen Neutronen, die weitere Spaltungen auslösen: eine Kettenreaktion.

Unterkritische Reaktoren beziehen die Neutronen, die für die Kernspaltung nötig sind, nur teilweise aus den Brennstäben. Der maßgebliche Anteil stammt aus einem separaten Teilchenbeschleuniger. Reißt der Partikelstrom – aus welchen Gründen auch immer – ab, „verhungert“ der Reaktor und geht in einen sicheren Ruhezustand über, versprechen die Entwickler.

Die Tücke steckt jedoch im Detail. Die Beschleuniger müssen viel zuverlässiger arbeiten als sie es derzeit tun, damit die Anlage läuft und eben nicht ständig ausgeht. Denn es dauert viele Stunden, bis sie nach einem kurzen Stopp wieder einsatzbereit wäre. Aktuell werden in Europa zwei verschiedene Ansätze vorangetrieben.

Der eine ist „Myrrha“ aus dem belgischen Mol. Der Name „Multi-purpose hYbrid Research Reactor for High-tech Applications“, für Mehrzweck-Hybrid-Forschungsreaktor für Hightech-Anwendungen, lässt bereits erkennen, dass die Transmutation nur eines von mehreren Forschungszielen ist. Derzeit konzentriert sich das Team auf das Design des Linearbeschleunigers, der Protonen auf einen Mix aus flüssigem Blei und Wismut schießt, wo schließlich die erwünschten Neutronen frei werden. Das Design für den zweiten Teil, den Reaktor, ist noch nicht festgelegt. Etwa 2036 soll Myrrha laufen.

Das Genfer Unternehmen Transmutex will es schneller schaffen. Bereits 2032 könnte die erste Anlage fertig sein, sagt der stellvertretende Geschäftsführer Guido Houben. „Wir planen keine Forschungseinrichtung, sondern kompakte Industrieanlagen, die mit überschaubarem Aufwand einsatzbereit sind, um Atommüll zu eliminieren und als positiven Nebeneffekt klimafreundlich Wärme und medizinische Radioisotope erzeugen“, also radioaktive Substanzen, die für diagnostische und therapeutische Zwecke eingesetzt werden. Sie haben üblicherweise kurze Halbwertszeiten, um die Strahlenbelastung für Patienten zu minimieren.

Auch Transmutex setzt auf einen beschleunigergetriebenen Reaktor. Houben sagt: „Das Gefahrenpotenzial ist viel geringer als bei herkömmlichen Reaktoren, einschließlich Schneller Brüter“, einer speziellen Art von Kernreaktor. „Liefert der Beschleuniger keine Neutronen, stoppt die Kettenreaktion binnen zwei Millisekunden.“ Zwar steige die Temperatur im Innern vorübergehend an, doch das genüge nicht, um die Kühlung aus flüssigem Blei zum Sieden zu bringen.

Geringere Gefahr, weniger teure Sicherheitsvorkehrungen, einfachere Genehmigung – mit dieser Formel will Houben Zeit und Kosten sparen. Zudem sollen bereits verfügbare Komponenten verwendet werden. „Ein 400 Meter langer Linearbeschleuniger, wie er bei Myrrha geplant ist, lässt sich nicht überall so einfach aufbauen“, sagt er. Transmutex favorisiert ein platzsparendes Zyklotron und kooperiert dazu mit dem Paul-Scherrer-Institut in Villigen in der Schweiz, das Erfahrung mit solchen Geräten hat.

Der Reaktor soll mit Thorium betrieben werden, weil es „demokratischer“ verteilt sei als Uran und proliferationssicher, wie Houben erklärt. Vorkommen gibt es unter anderem in Australien, Norwegen, Indien sowie in der Asche von Kohlekraftwerken und Nebenprodukte werden nicht für Nuklearwaffen verwendet.

Thorium-232 wird dank Neutronen und Zerfall zu Uran-233, das bei der Kernspaltung viel Energie freisetzt. Zusätzlich könnten im Reaktor Spaltprodukte aus alten Brennstäben „verbrannt“ werden, sagt Houben, etwa Plutonium, Neptunium, Americium, Curium sowie Iod und Technetium. Am Ende blieben geringe Mengen langlebig strahlender Abfall, die in ein Endlager müssen.

Derzeit arbeitet die Firma an einem „digitalen Zwilling“ des ersten Kraftwerks, um Entwicklung und Genehmigung voranzubringen. Wo es stehen wird, ist noch unklar. „Gerne in Deutschland an den Standorten der alten AKW, wo der Atommüll gelagert wird“, sagt Houben. „Wir führen auch Gespräche in Schweden, Indien, den USA und anderen Ländern.“ Die Kosten für den Prototypen schätzt er auf rund eine Milliarde Euro. 20 Millionen seien bereits durch private Kapitalgeber beisammen. Den Rest sollen weitere Finanzierungsrunden bringen.

Bekanntermaßen sind Zeit- und Kostenpläne für neue Technologien kritisch zu betrachten. Holger Podlech von der Goethe-Universität Frankfurt ist führend am Beschleuniger für Myrrha beteiligt und sieht beim Zyklotron der Genfer „erhebliche technische Herausforderungen“, um die erforderliche Leistung und insbesondere Zuverlässigkeit zu erreichen.

„Diese in zehn Jahren zu bewältigen halte ich nicht für ausgeschlossen, aber doch für sehr ambitioniert.“ Ein Linearbeschleuniger sei geeigneter, weil redundante Systeme eingebaut werden können, die bei einem Ausfall schnell einspringen. Auch ließen sich höhere Strahlströme erzielen und der Teilchenstrahl besser fokussieren.

Allerdings ist Myrrha auf Forschung ausgerichtet. Daraus eine industrielle Anlage zu entwickeln bräuchte noch mehr Zeit. Aus Podlechs Sicht lohnt sich der Weg dennoch. Zum einen wegen des vorhandenen Atommülls. Allein in Deutschland sind es gut 17.000 Tonnen hoch radioaktives Material. „Mit Transmutation ließe sich die Menge erheblich reduzieren.“ Das Endlager könnte kleiner sein und müsste nicht mehr über geologische Zeiträume halten, sondern lediglich historische.

„Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch in 500 Jahren noch Leute da sind, die einen dicken Betonbunker in – sagen wir – 50 Meter Tiefe bewachen können, wie eine militärische Anlage.“ Sein zweites Argument ist die Energie, die in Form spaltbaren Materials in alten Brennelementen steckt. „Ich würde deutlich mehr elektrische Energie aus der Anlage herausholen als ich für ihren Betrieb, einschließlich des Beschleunigers, aufwenden muss.“
Ein Endlager wäre trotzdem noch nötig

Friederike Frieß von der Universität für Bodenkultur Wien ist Hauptautorin eines Gutachtens zum Thema, das für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in Berlin erstellt wurde. Sie meint: „Für Länder mit einem großen Kernenergieprogramm wie Russland oder Frankreich könnte die Transmutation eine Option sein“. Für Deutschland könne sie sich das nicht vorstellen. Schließlich müssten neue kerntechnische Anlagen gebaut werden.

Und: „Die Technologie ist noch nicht erprobt und extrem teuer“, sagt Frieß. Atommüll müsste mehrere Male hintereinander wiederaufgearbeitet werden, das sei aufwändig und erhöhe das Proliferationsrisiko. „Am Ende brauchen wir trotzdem ein Endlager.“ Ob es kleiner würde, sei für die Mehrheit der Bevölkerung unerheblich, meint sie. „Da geht es darum, ob eines kommt oder nicht.“

Houben bezweifelt das. Ein Endlager mit extrem verkürzter Verwahrzeit dürfte eher akzeptiert werden, meint er und erinnert an Untertagedeponien für hochgiftige Chemikalien, an denen sich auch kaum jemand störe. Für den deutschen Markt, bei dem es in erster Linie um eine Lösung für den Atommüll geht, sieht er eine Nachnutzung der vorhandenen kerntechnischen Einrichtungen vor. Stark vereinfacht ginge das so: Kuppel auf, alter Reaktor raus, kleiner neuer hinein und los geht’s. Freilich ohne Stromproduktion, die aussichtslos erscheint.

Transmutex würde stattdessen die Abwärme aus dem Prozess vermarkten, etwa für Fernwärmenetze an ehemaligen AKW-Standorten in Lingen oder Landshut. Houben sieht noch weitere Geschäftsfelder: Die großen Wärmemengen könnten für die effiziente Wasserstoffproduktion mittels Hochtemperatur-Elektrolyse verwendet werden. Am Beschleuniger und Reaktor wiederum könnten Radionuklide für die Medizin produziert werden.

Ob sich der Reaktor allein mit Wärme, Wasserstoff und Radionukliden finanzieren ließe, ist fraglich. Houben hofft zusätzlich auf Mittel aus dem „Endlagerfonds“, wörtlich Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung (Kenfo), der 24 Milliarden Euro umfasst. „Schließlich würde dank unserer Technologie das Endlager kurzlebiger und billiger.“
Transmutation benötigt weitere Forschung

Dass die Rechnung so einfach aufgeht, glaubt Dirk Bosbach vom Forschungszentrum Jülich und Sprecher des Helmholtz-Programms „Nukleare Entsorgung, Sicherheit und Strahlenforschung“ nicht. „Es gibt etliche Punkte, die dafür sprechen, die beschleunigergetriebene Transmutation weiterzuerforschen“, sagt er und nennt als Beispiel die langlebigen Spaltprodukte Technetium-99 und Iod-129 im Atommüll.

„Im Endlager sind sie problematischer als Uran, weil sie wasserlöslich sind und leichter austreten könnten.“ Viele Transmutationskonzepte kümmern sich nicht darum, sodass die Elemente als Gefahrstoff erhalten bleiben. „Wenn es wirklich gelingt, Technetium und Iod umzuwandeln und zu entschärfen, wäre das ein Gamechanger.“

Bosbach nennt darüber hinaus in Glas eingeschmolzene Reste aus der Wiederaufarbeitung, die in Deutschland gut ein Drittel des stark strahlenden Abfalls ausmachen. Bislang kann und will niemand etwas mit den Gläsern anfangen, sie müssten ebenso endgelagert werden – und gelten daher als Gegenargument zur Transmutation. „Neuere Forschungen legen nahe, dass man diese Gläser doch auflösen und die einzelnen Elemente herauslösen kann“, berichtet der Wissenschaftler. Mit großem Aufwand zwar, aber es sei nicht unmöglich. Auch Transmutex arbeitet an entsprechenden Verfahren.

Drittens sei das alte Argument, die Transmutation käme eh zu spät, obsolet. Da die Endlagersuche sich um Jahrzehnte verzögere, gewinne man Zeit und sollte sie nutzen, meint Bosbach. „Ich würde nicht mein ganzes Geld auf die Transmutation setzen, aber ich würde sie weiter verfolgen, bis ich fundiert entscheiden kann, ob sie sich lohnt oder nicht.“ Noch lasse sich diese Frage nicht klar beantworten. „Daher wäre es klug, beide Wege – Transmutation und Endlagerung – parallel voranzutreiben.“ 


Erschienen am 14. August 2023.


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