Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Artikel

Anthropozän: Bekommt die Menschheit ein eigenes Zeitalter?

Die Spuren, die der Mensch auf dem Planeten hinterlässt, sind unübersehbar. Staudämme halten Flüsse auf, fluten Täler und lassen kaum noch Sediment ins Meer. Um Rohstoffe und Baumaterial zu gewinnen, werden gewaltige Massen an Erde und Gestein versetzt. Das Klima hat unsere Spezies binnen kurzer Zeit spürbar verändert und am Artensterben ist sie ebenso maßgeblich beteiligt.


Es ist das „Zeitalter des Menschen“, vom Nobelpreisträger Paul Crutzen um die Jahrtausendwende erstmals als „Anthropozän“ bezeichnet. In Kunst und Kultur wurde der Begriff begeistert aufgenommen, auch in den Erdwissenschaften findet er zunehmend Anhänger. Einige Forscher möchten sogar, dass das Anthropozän als eigenständige Epoche in der Geologischen Zeitskala ausgewiesen wird. Ihrem Ziel kommen sie nun sichtbar näher.

Die Skala ist für die Geowissenschaften so etwas wie das Periodensystem der Elemente für die Chemie. Sie ordnet die Kapitel der Erdgeschichte und birgt große Begriffe wie das Kambrium mit seiner „Explosion der Arten“, die Kreidezeit mit ihren Dinosauriern, das Pleistozän mit mehrfachen Vereisungen bis weit nach Europa hinein sowie als jüngste Epoche das Holozän. Es begann vor 11.700 Jahren nach der letzten Eiszeit.

Das Holozän habe ausgedient, es möge enden und Platz machen fürs Anthropozän, fordern Verfechter wie Jan Zalasiewicz und Colin Waters von der Universität Leicester – und provozieren Widerspruch von anderen Geoforschern. Zwar sind Korrekturen in der Zeitskala möglich, doch sie müssen gut begründet sein. Dazu wurde 2009 eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Sie soll Argumente für und gegen das Ausrufen der neuen Epoche abwägen. Sie soll sich einigen, wann genau sie beginnt und an welchem Ort der Wechsel von Schichten des Holozäns zu denen des Anthropozäns mustergültig zu erkennen ist.

Die Mehrheit der Gruppe plädiert für eine neue Epoche und möchte die Mitte des 20. Jahrhunderts als Beginn hernehmen. Es gilt ihnen als Zeit der „großen Beschleunigung“ in der eine wachsende Bevölkerung mit seinem Bedarf an Rohstoffen und Energie die Umwelt schneller und tiefgreifender veränderte als zuvor. Zugleich finden sich neue Substanzen in den Ablagerungen: Plastik, Plutonium aus Kernwaffentests, Aluminium, das noch vor hundert Jahren in der Natur fast ausschließlich in chemischen Verbindung vorkam und jetzt zu zig Millionen Tonnen in reiner Form anzutreffen ist – von Flugzeugen über Töpfe bis zu Blechen. Nun müssen die Forscher klären, an welchem Ort die Signatur der neuen Stoffe und des menschlichen Einflusses am deutlichsten zu erkennen ist.

Global Stratotype Section and Point, kurz GSSP, sagen Fachleute zu diesen Orten, an denen neue Kapitel der Erdgeschichte vorbildlich zutage treten, man buchstäblich den Finger auf die Grenzschicht legen kann. Der Wetteldorfer Richtschnitt in der Eifel gehört dazu. Dort liegen Sedimente eines urzeitlichen Meeres, die unter anderem Fossilreste von wurmartigen Conodonten enthalten. Jene Schicht, die erstmals die Unterart Polygnathus costatus partitus führt, gilt als Grenze zwischen Unter- und Mitteldevon vor 393 Millionen Jahren.

Um das Anthropozän als neue Epoche einzuführen, braucht es ebenfalls einen GSSP. Zwölf Vorschläge wurden eingereicht, neun sind noch im Rennen. Unter anderem Sedimentschichten am Grunde des Crawfordsees in Ontario, in der Beppu-Bucht der japanischen Insel Kyūshū, ein Eisbohrkern aus der Antarktis und ein Hochmoor im polnischen Riesengebirge. Für die jeweiligen Orte argumentieren die einreichenden Teams, dass die Schichten gut ausgeprägt seien und bestimmte geochemische Marker, etwa Plutonium oder Stoffeinträge aus Industrie und Landwirtschaft, klar erkennbar.

Voraussichtlich im Sommer werden sich die 23 Mitglieder der Arbeitsgruppe auf eine Lokalität einigen und einen Vorschlag zur Ausrufung der neuen geologischen Epoche formulieren. Der muss in drei übergeordneten Gremien, bis hinauf zur Internationalen Union der Geowissenschaften, eine Mehrheit gewinnen. Ob das gelingt, ist offen.

„Die Suche nach einer allgemeingültigen, scharfen Grenze ist schwer“, sagt Flavio Anselmetti von der Universität Bern. Der Geologe kennt viele Sedimente, in denen der Einfluss des Menschen klar zu sehen ist. Zum Beispiel in Seen, die von der Überdüngung gezeichnet sind. „Sie führt zu sauerstofffreien Zonen und die Schichten sind auf einmal pechschwarz, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.“ Wann das geschah, sei jedoch von See zu See verschieden.

Er ist nicht in der Anthropozän-Arbeitsgruppe beteiligt, verwendet den Begriff aber gern, in Vorträgen, Artikeln oder Anträgen, wie auch etliche Kollegen. „Es ist offenkundig, dass unsere Spezies das Erdsystem gewaltig verändert“, sagt Anselmetti. „Es ist unsere Verantwortung als Forscher, diese Botschaft in die Gesellschaft zu tragen.“

Er sagt aber auch: „Für die geowissenschaftliche Arbeit selbst benötigen wir das Anthropozän nicht.“ Längst haben sich andere Termini gefunden, um den menschlichen Einfluss zu kennzeichnen. Zudem seien moderne Datierungsmethoden viel präziser, die etwas willkürliche Grenze zwischen Holozän und Anthropozän nützte im Forscheralltag wenig.

Trotzdem unterstützt er das Bestreben nach einer neuen Epoche in der Geologischen Zeitskala. „Darin ist manche Grenze mehrfach verschoben worden, wenn es neue Erkenntnisse gab“, sagt er. „Wir sollten es einfach ausprobieren und gegebenenfalls korrigieren.“

Philip Gibbard von der Universität Cambridge sieht das anders. Er habe die Gründung der Arbeitsgruppe selbst angeregt, sagt er, „weil es ein Thema war, das viele interessierte.“ Als Generalsekretär der Internationalen Kommission für Stratigraphie – der „Wächter“ über erdgeschichtliche Einheiten – ist es ihm wichtig, dass bestimmte Kriterien erfüllt werden, ehe eine neue Epoche ausgerufen wird. Beim Anthropozän ist er nicht überzeugt.

„Der massive Einfluss des Menschen auf die Umwelt ist unbestritten, doch er begann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten.“ Eine einheitliche Untergrenze lasse sich unmöglich ziehen. Gibbard und Kollegen schlagen stattdessen vor, das Anthropozän als ein „Ereignis“ zu behandeln, mit einem allmählichen Beginn, das bis heute andauere.

Auf solche „Ereignisse“ während der Erdgeschichte haben sich Fachleute schon mehrfach geeinigt. Das wohl bekannteste ist das Great Oxidation Event vor zwei Milliarden Jahren. Damals erzeugten primitive Lebewesen zunehmend Sauerstoff, dessen Gehalt in Gewässern und der Atmosphäre rapide anstieg. Ein Hinweis darauf dass, das die Menschen nicht die ersten Organismen seien, die das Erdsystem veränderten, argumentieren Gibbard und Kollegen.

Auch er meint, dass es im geowissenschaftlichen Alltag wenig nützt, wenn das Anthropozän ausgerufen würde. Politik und Gesellschaft sprächen eher darauf an. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagt Gibbard. „Die Fürsprecher sind tolle Forscher, aber was die Benennung einer neuen Epoche angeht, sind sie sehr engagiert unterwegs.“ Eine britische Andeutung von Aktivismus und Politisierung der Wissenschaft.

„Ach, andere sagen, wir seien noch viel zu unpolitisch“, entgegnet Reinhold Leinfelder. Der emeritierte Geologie-Professor der FU Berlin und frühere Direktor des Naturkundemuseums ist einer der entschiedenen Fürsprecher und stimmberechtigtes Mitglied der Anthropozän-Arbeitsgruppe. Der Befund sei eindeutig, sagt er und zählt auf: 96 Prozent der Säugetiere bestehen aus den Menschen und ihren Nutztieren.

Der Mensch hat der Erde 30 Billionen Tonnen Material entnommen und neu verarbeitet, zu Häusern, zu Maschinen. Auf jeden Quadratmeter Erdoberfläche kommen im Schnitt 50 Kilogramm Technofossilien, also Materialien, die dem Naturkreislauf entzogen wurden und zu neuen Produkten zusammengefügt wurden, darunter ein Kilogramm Beton. Selbst das Sedimentationsgeschehen habe sich geändert, seit der Mensch Flüsse begradigt und mit Staustufen versieht. „Wir haben es zweifelsohne mit einem neuen geologischen Abschnitt zu tun“, sagt Leinfelder. Diese würden stets mit ihrer Basis gegenüber der älteren Einheit definiert. „Das müssen wir nun angehen.“

In der Geo-Gemeinde wird viel darüber diskutiert. Manche Wissenschaftler berichten, dass sie den Begriff einst für Unsinn hielten, ihn inzwischen aber selbst verwenden, um den Einfluss des Menschen kenntlich zu machen. Beim Eingriff in die Geologische Zeitskala indes zögern sie. Herbeiführen können diesen ohnehin nur die Stratigraphen. Die sind verhalten, berichtet Thomas Litt von der Universität Bonn, der in der Internationalen Subkommission Quartär vertreten ist. Ihr wird der Anthropozän-Antrag zuerst vorgelegt werden. 60 Prozent Zustimmung muss er bekommen, damit er ans nächste Gremium, die Stratigraphische Kommission weitergeleitet wird.

„Keiner bestreitet, dass der Einfluss des Menschen groß ist und dieser sich beschleunigt hat“, beschreibt Litt die Stimmung in der deutschen wie der internationalen Quartär-Community. Doch die angestrebte Formalisierung rufe Skepsis hervor. „Das Holozän, das nun enden soll, ist per Definition bereits eine Zeit, die durch menschlichen Einfluss geprägt ist“, sagt der Forscher. Man denke an die Folgen von Ackerbau und Viehzucht. Es werde semantisch schwierig, die neue Epoche sauber davon abzugrenzen.

Manche Fachleute stören sich zudem am hohen Rang in der Hierarchie. Das Anthropozän wäre gleichbedeutend mit dem Holozän und Pleistozän, letzteres umfasst immerhin zweieinhalb Millionen Jahre. Dagegen nehmen sich die wenigen Jahrzehnte der angestrebten neuen Epoche, trotz aller Umwälzungen, etwas bescheiden aus.

Auch Litt verweist auf das Dilemma der Stratigraphen: Die Suche nach einem einheitlichen GSSP ist schwierig, weil der Beginn der „Großen Beschleunigung“ global zu unterschiedlichen Zeiten erfolgte. Umso gespannter wartet er nun auf den Vorschlag der Anthropozän-Arbeitsgruppe und wie diese argumentiert.

Christoph Antweiler, Geologe und Anthropologe an der Universität Bonn, plädiert dafür, beim Anthropozän-Begriff genau zu unterscheiden. „Bezogen auf die Geologie bin ich gegen eine formale Benennung einer neuen Epoche“, sagt er. Sie sei zu kurz, zu unterschiedlich der Beginn in verschiedenen Regionen. „In den Erdsystemwissenschaften und erst recht in den Geisteswissenschaften ist der Begriff gut und sinnvoll.“ Er zeige, wie tiefgreifend und langfristig die Wirkung des Menschen sei. Das Anthropozän in diesen Kontexten sei viel weitreichender als das, was beispielsweise unter Klimawandel oder Nachhaltigkeit diskutiert werde. Es biete einen umfassenden Ansatz, in dem sich verschiedene Forschungen ergänzen.

Antweiler arbeitet viel in Südostasien und warnt: „Dort wird das Anthropozän als ein Thema wahrgenommen, das eurozentrisch beziehungsweise atlantozentrisch ist.“ Die Kollegen seien skeptisch. Ähnliches berichtet Gibbard. Geowissenschaftler aus Afrika oder Südamerika seien in der Debatte kaum vertreten.

Wie es scheint, braucht es für das Anthropozän neben einem weltweit vorhandenen Signal in Sedimenten auch eine globale Akzeptanz des Begriffs.

Erschienen am 22. Mai 2023.
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