Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Artikel

Sensible Leitungen


Mit Glasfasern im Untergrund lassen sich Erschütterungen der Erde schnell und einfach messen.


Eng schmiegt sich die Gebirgsstrasse an den Hang, unübersichtliche Kurven, Regen – und plötzlich schiesst eine Lawine aus Schlamm und Geröll auf die Fahrbahn. Liessen sich doch die Fahrer rechtzeitig warnen! Das könnte gelingen, sogar mit einfachen Mitteln, nämlich einer Telefonleitung. Denn mit Glasfaserkabeln lassen sich Erschütterungen erfassen. Angesichts der schieren Menge solcher Kabel, die sich durch Festländer und Meere ziehen, könnten Geowissenschafter die Erde viel genauer beobachten.

Erste Resultate sind vielversprechend. «Die Daten sind absolut phänomenal», sagt Andreas Fichtner, Seismologe an der ETH Zürich und soeben zurückgekehrt aus Grönland. Er und sein Team haben dort Glasfaserkabel auf einem Gletscher verlegt und in einem Bohrloch versenkt. So fanden sie zahlreiche Eisbeben: schwache Erschütterungen, die sich unten in der Tiefe ereignen, aber nicht die Oberfläche erreichen. Hätten die Geophysiker lediglich ihre herkömmlichen Geräte aufgestellt, hätten sie die Beben übersehen.

Das Phänomen widerspreche der klassischen Vorstellung eines Gletschers, sagt Fichtner. «Da nimmt man an, das Eis fliesse wie eine sehr zähe Flüssigkeit und Beben ereigneten sich nur an der Kontaktfläche zwischen Gletscher und Fels.» Offenbar gibt es aber auch innerhalb des Eises ruckartige Bewegungen. Der Seismologe hätte die Eisbeben auch mit empfindlichen Bohrlochsonden aufspüren können, die in der Öl- und Gasindustrie verwendet werden. «Für die akademische Forschung sind sie aber viel zu teuer», sagt er. Die drei Kilometer Glasfaserkabel hingegen, die das ETH-Team nutzte, hätten nur rund 10 000 Franken gekostet.

Um damit zu messen, werden Laserpulse hineingeschickt. Keine Glasfaser ist perfekt, überall gibt es kleine Störstellen, an denen ein Teil des Laserlichts zurückgeworfen wird. Aus der Laufzeit der Pulse lässt sich berechnen, wo genau sich die Störstellen befinden. Kommt eine Erdbebenwelle, wird das Kabel ein wenig gedehnt oder gestaucht. Diese Längenänderung zeigt sich in den Daten des reflektierten Laserlichts. Daraus lassen sich Ort und Stärke der Erschütterungen ermitteln – und das sehr genau.

Grosses Potenzial

«Entscheidend ist, dass das Kabel gut an den Untergrund gekoppelt ist», sagt Fichtner. Das bedeutet: eingraben. «Bei Eis oder Ascheablagerungen an einem Vulkan geht das sehr gut», sagt er und berichtet von Messungen am Vulkan Grímsvötn auf Island. Hundertmal mehr Erschütterungen als mit den üblichen Seismometern hätten die Forscher dort erfasst. «Das zeigt, welches Potenzial die Technologie für ein Frühwarnsystem haben kann: Je eher es anschlägt, umso mehr Zeit ist für eine Evakuierung.»

Auch andere Naturgefahren liessen sich mit der Technik rasch erkennen, darunter Murgänge und Lawinen. «Indem die Partikel auf die Erde prasseln, erzeugen sie seismische Wellen, die sich schneller ausbreiten als die Massenströme selbst», sagt Fabian Walter von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL in Birmensdorf. Per Glasfaser-Seismologie könnte rechtzeitig gewarnt werden. Versuche dazu hat Walter bereits am Illgraben im Wallis sowie an einer Passstrasse in der Ostschweiz unternommen. In ein bis zwei Jahren könnte das Verfahren praxistauglich sein. Der Vorteil: «Oft liegen bereits Glasfaserkabel für die Telekommunikation im Boden, die liessen sich nutzen», sagt er.

Erst recht in Städten sind die vorhandenen Kabel ein begehrtes Ziel der Geophysiker. «Sie könnten helfen, Bruchzonen im Untergrund aufzuspüren und die Erdbebengefahr besser abzuschätzen», sagt der ETH-Seismologe Fichtner. Mit herkömmlicher Technik brauchte es viele Seismometer, die beschafft, aufgestellt und vor Beschädigung zu schützen wären. «Diese Geräte werden weiterhin gebraucht, beispielsweise um Schwingungen zu registrieren, die über Tausende Kilometer durch die ganze Erde laufen.» Für den Einsatz in der Nähe erscheinen Glasfaserkabel jedoch oft geeigneter.

«Wir benötigen davon nur eine ungenutzte Faser», sagt Fichtner. Die sei eigentlich immer verfügbar, weil die Betreiber mehr Kapazität verlegen lassen, als gebraucht werde. «Das grössere Problem besteht darin, die richtigen Personen zu finden, die unser Vorhaben unterstützen und die Nutzung genehmigen.» Oft gebe es Skepsis, Angst vor Spionage oder dass die Leitung beschädigt wird. Ein weiteres Problem ist die Datenmenge. Schnell kommen bei der Glasfaser-Seismologie hundertmal so viele Messwerte zusammen wie bei herkömmlichen Methoden. Das erfordert viel Speicherplatz und Rechenleistung. Daher wird an besseren Algorithmen geforscht, um die Flut zu beherrschen.

Auch das Militär hat Interesse

Auch die Kommunikationsleitungen im Meer mit ihren Glasfasern sind potenzielle Sensoren – zumal dort viel weniger Messgeräte installiert sind als an Land und daher die Wissenslücken grösser sind. Marc-André Gutscher von der Universität Brest erforscht derzeit vor Sizilien, wie gut damit Veränderungen des Meeresbodens zu messen sind. Das ist nicht so einfach, wie sich zeigt. «Ist das Kabel nicht in den Boden eingegraben, ist die Kopplung schlechter und damit die Genauigkeit.» Und es ist verletzbar, etwa durch Schleppnetze, die am Grund entlanggezerrt werden. Unterwasserkabel sind aber auch durch Sabotage bedroht, wie die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee zeigen. «Wenn sich daran jemand zu schaffen macht, sollte man das feststellen können», sagt Gutscher. Die Militärs dürften das wissen. Dort sind Glasfaserkabel längst ebenso ein Forschungsthema, etwa um U-Boote aufzuspüren.


Erschienen am 06.11.2022.



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