Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Artikel

Die Einmischer: „Scientists for Future" zwischen Forschung und Aktivismus

Ohne Christian Lindner gäbe es die „Scientists for Future“ wohl nicht. 2019 hatte der FDP-Chef über die jungen Leute der „Fridays for Future“-Bewegung gesagt, man könne von ihnen nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. „Das ist eine Sache für Profis.“ Daraufhin meldeten sich die Profis zu Wort. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz verfassten eine Stellungnahme. Darin heißt es unterstützend zu den Anliegen der Jugendbewegung: „Sie sind berechtigt und gut begründet. Die derzeitigen Maßnahmen zum Klima-, Arten-, Wald-, Meeres- und Bodenschutz reichen bei weitem nicht aus.“ Schnell fanden sich 26 800 Personen aus dem akademischen Milieu, die unterschrieben.

Ein Teil davon machte weiter, gründete Regional- und Fachgruppen der „Scientists for Future“ (S4F) sowie ein Koordinierungsteam. Sie beschreiben sich als „überinstitutioneller, überparteilicher und interdisziplinärer Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die sich für eine nachhaltige Zukunft engagieren“. Das Engagement sorgt für Diskussionen: Wie stark sollen sich Wissenschaftler in gesellschaftliche Debatten einbringen? Drohen sie vereinnahmt zu werden von politischen Strömungen, werden sie gar zu Protagonisten?
   
Manche tragen ihr Wissen in die Kommunalpolitik, stehen Abgeordneten Rede und Antwort. Andere sprechen auf Klimademos, um den Ernst der Lage zu schildern. In Bremen verhelfen sie der „Klimabahn“ zum Start: eine Tram mit Infomaterial innen und „Warming Stripes“ außen, die die fortschreitende Erderwärmung zeigen und auch im Corporate Design der S4F zu finden sind. In Halle/Saale zeigen sie Autofahrern auf elektronischen Werbewänden wie sich die Erde in den letzten 150 Jahren bereits erwärmt hat.

Eine große Bewegung, wie sie im Jahr 2019 mit Hunderttausenden auf Klimademos und weit verbreiteter Aufbruchstimmung möglich schien, wurde es nicht. Manche kamen neu hinzu, manche gingen. Weil sie und die politischen Akteure ständig aneinander vorbei redeten, weil sie selbst parteipolitisch aktiv wurden oder weil sie sich um Publikationen und Drittmittel für ihre Forschung kümmern mussten. Nicht zuletzt, so ist von mehreren zu hören, waren auch die Covid-19-Pandemie und damit verbundene Einschränkungen kontraproduktiv.
Vor der Pandemie, wie hier in Berlin im September 2019, war es leichter große Demonstrationen zu organisieren. © dpa-Zentralbild/dpa / Jens Büttner

Wie viele „Scientists“ derzeit aktiv sind, kann das Koordinierungsteam nicht genau sagen. Da es sich um eine hierarchiearme Organisation in rund 40 Gruppen handelt, dürfte die Zahl bei einigen Hundert liegen. Alle sind ehrenamtlich tätig, abgesehen von sechs Teilzeitangestellten, die sich um die Webseite und Büroarbeiten kümmern. Für dieses Personal und Sachmittel gibt es laut Auskunft ein Budget von 100 000 Euro im Jahr, aus Spenden und Fördermitteln.

S4F wollen nicht nur informieren, sondern auch konkret unterstützen. So hat eine Gruppe um Urban Weber von der TU Bingen Anfang Oktober 2021 ein Konzept für die vom Hochwasser verwüstete Ahrtal-Region vorgelegt. Es geht um den Wiederaufbau der Energie- und Wärmeversorgung mit dem Ziel, bis 2030 fossile Energieträger vollständig durch Erneuerbare zu ersetzen. Impulse dieses Konzepts „Aus Ahrtal wird SolAHRtal“ sollen nun mit dem Projekt „Energiebewusstes Bauen und Nutzung regenerativer Energien“ verknüpft werden, das der Umweltausschuss schon im September angestoßen hatte. Das teilt die Kreisverwaltung Ahrweiler mit.

Eine weitere Veröffentlichung im Oktober sorgte für viel Diskussion, auch innerhalb der S4F. Es geht um ein Dokument, das einen der größten Streitpunkte in der Klimaschutzdiskussion aufgreift: Kernenergie. Ihre Treibhausgasbilanz ist inklusive Uranbergbau und Transport so günstig wie Windkraft und besser als Fotovoltaik. Sollte sie, trotz der bekannten Nachteile, angesichts der fortschreitenden Erderwärmung in einem klimafreundlichen Energiemix genutzt werden?

Über ihre Medienkanäle machten die S4F ihren Standpunkt klar: „Kernenergie [ist] keine Technologie zur Lösung der Klimakrise“. Er stützt sich auf einen knapp 100-seitigen Text von 16 Autoren, der in der Pressemitteilung als „Studie“ bezeichnet wird. Kernenergie sei zu langsam ausbaufähig, zu teuer und zu risikoreich, heißt es. „Zudem behindert sie strukturell den Ausbau der Erneuerbaren Energien, die gegenüber der Kernkraft schneller verfügbar, kostengünstiger und ungefährlich sind.“

Selbstverständlich gab es Widerspruch. Unter anderem von Anna Veronika Wendland, die als Technikhistorikerin seit Jahren in Kernkraftwerken im In- und Ausland forscht und sich für die Technologie stark macht. In einem Gutachten stellt sie fachliche Fehler dar und folgert: „Das Papier hat einen deutlichen Bias zu Ungunsten der Kernenergie“, hervorgerufen durch selektive Kenntnisnahme der Fachliteratur und voreingenommene Interpretation vorliegender Daten. Nachzulesen ist das Gutachten auf der Webseite der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften GWUP.

Auf diese Vorwürfe reagiert der Hauptautor Ben Wealer vom Fachgebiet Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik an der TU Berlin so: „Das Papier fasst den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Fachliteratur zusammen.“ Es gebe weitere Literatur auch mit teilweise anderen Interpretationen, etwa zu Sicherheitsfragen oder zur Einschätzung von Kernenergie für Klimapolitik. Wealer nennt Veröffentlichungen der Internationalen Atomenergie-Organisation und der Nuclear Energy Agency, die zitiert und im Diskussionsbeitrag gewürdigt würden. Bezogen auf die Kritik in Wendlands Gutachten heiße das: „Wir schauen uns diese noch einmal genau an und werden, falls wissenschaftlich fundiert, diese in der nächsten Version unseres Diskussionsbeitrags berücksichtigen.“

Auch innerhalb der „Scientists“ gibt es Stimmen, die eine einseitige Einordnung kritisieren. Doch es sind mutmaßlich Einzelmeinungen. Zur Kernenergie äußern sich viele S4F-Engagierte ablehnend und bestätigen, dass das die vorherrschende Stimmung in dem Zusammenschluss sei.

Bekanntermaßen kommen andere Expertengremien zu anderen Schlüssen. So meint der Weltklimarat IPCC, die Kernenergie könne zu einer klimafreundlichen Energieversorgung beitragen. Auch die Bestrebungen von Ländern wie Finnland, Polen oder jüngst der Niederlande, die Technologie für eine klimafreundliche und sichere Energieversorgung zu nutzen, haben eine fachliche Basis.
Das Kontrollzentrum des niederländischen Atomkraftwerks Borssele © imago images/ANP

Über die Energiefrage hinaus gibt es teils grundsätzliche Skepsis gegenüber den S4F. „Sie erklären, für ’die Wissenschaft’ zu sprechen, können das aber nicht einlösen“, sagt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und Leitautor für den aktuell entstehenden IPCC-Bericht der Arbeitsgruppe „Minderung des Klimawandels“. Teilweise seien die Akteure nicht tief genug in den Themen eingearbeitet oder träfen eine politisch motivierte Auswahl. „Gerade auf der Seite möglicher Lösungen für das Klimaproblem sind nicht alle relevanten Punkte repräsentiert“, sagt er. Das betreffe etwa die Abscheidung von Kohlendioxid aus Industrieprozessen, um es im Untergrund zu lagern oder anderweitig zu nutzen sowie das fast völlige Ignorieren von negativen Emissionen, der Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre.

Ausschließlich auf einen raschen Umbau hin zu 100 Prozent Erneuerbare zu setzen, genüge nicht. „Die 1,5-Grad-Marke werden wir sehr wahrscheinlich im nächsten Jahrzehnt reißen, und dann?“, fragt Geden. Umso wichtiger sei es, auf alle Möglichkeiten zu blicken und die politische Machbarkeit im Blick zu behalten. „Das Gut-Böse-Schema, das manche der Scientists for Future befeuern, ist unterkomplex.“

Zugespitzte Formulierungen, Einmischen in Debatten – auch dies gehört zu den Gründen, warum etliche Forscherinnen und Forscher den S4F nicht beitreten. Der Mitgründer Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, sieht das anders: „Wenn ich als Wissenschaftler sehe, dass eine existenzielle Gefahr auf uns zurast, möchte ich etwas tun, um diese abzuwenden.“ Mit Medienauftritten, einem eigenen Podcast und viel Social-Media-Präsenz trägt er seine Einschätzungen in die Öffentlichkeit. Seine Posts erhalten viel Beifall und teils heftige Kritik bis hin zu Gewaltandrohungen, wie er berichtet.

„Natürlich verkürze ich“, sagt Quaschning. „Sie können keinen Fachartikel auf 280 Zeichen Tweetlänge runterbrechen und alle Aspekte beleuchten.“ Die Formulierungen seien wissenschaftlich korrekt und er füge Links hinzu, wo es weitere Informationen gebe, etwa eine Podcastfolge oder ein Kapitel in seinem neuen Buch.

Ein jüngeres Beispiel ist dieser Tweet: „Windkraftanlagen werden gerne als die schlimmsten Vogelkiller bezeichnet. Rund 100 000 Vögel gehen pro Jahr auf ihr Konto. Katzen töten aber 100 Mio. Vögel und der Mensch tötet 600 Mio. Vögel, um sie zu essen.“ Da werden ja Rotmilane mit Brathähnchen gleichgesetzt, lautete eine Kritik. „Mir ist keine Studie bekannt, die nachweist, dass in Regionen mit starkem Zubau von Windkraftanlagen der Rotmilan ausgestorben wäre“, sagt Quaschning.

Er habe auch eine ethische Frage aufwerfen wollen: Warum führen wir so große Diskussionen um einzelne Vögel, die durch Windräder getötet werden, und akzeptieren klaglos, dass in Deutschland hunderte Millionen Vögel anderweitig getötet werden? „Es ist einfacher, gegen Windkraftanlagen zu demonstrieren als Vogelschutzgläser einzubauen oder das Autofahren und den Fleischkonsum zu reduzieren“, argumentiert er. „Wenn solche Aspekte diskutiert werden, hat mein Tweet genau das erreicht, was er erreichen sollte.“

Also postet Quaschning weiter, auch weil er so andere Menschen erreicht als mit Fachartikeln. Ganz im Sinne der Scientists for Future.

Erschienen am 27. Januar 2022.
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