Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Artikel

Probleme mit Iter - der Weg zur Kernfusion wird immer länger

Kernfusion könnte massgeblich dazu beitragen, den wach­senden Energiehunger der Welt klimafreundlich und wetterunabhängig zu stillen. Mit Iter – dem International Thermonuclear Experimental Reactor – soll ein ­grosser Schritt gelingen, um den Traum wahr werden zu lassen. Doch das Projekt hat, wieder einmal, mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bereits jetzt ist klar: Der Zeitplan wird nicht einzuhalten sein.

Der Forschungsreaktor wird derzeit in Südfrankreich errichtet. In seinem donutförmigen Reaktorgefäss, dem «Tokamak», sollen Wasserstoffkerne von starken Magneten in der Schwebe gehalten und so sehr erhitzt werden, dass sie zu Helium verschmelzen, wodurch Energie frei wird. Diese Reaktion ist in Experimenten gelungen, aber mit einem vielfach höheren Energieaufwand. Iter soll erstmals mehr Energie freisetzen, als zuvor aufgewendet wurde. Der Forschungsreaktor wird keinen Strom erzeugen. Das soll erst das Demo-Kraftwerk tun, das auf Iter und weiteren Versuchsanlagen basiert – nicht vor den 2050er Jahren.

Iter besteht aus rund einer Million Einzelteilen, viele sind Spezialanfertigungen, die Montage ist komplex. Die Arbeiten am Reaktorgefäss wurden Ende Januar von der französischen Behörde für nukleare Sicherheit (ASN) gestoppt. Der Grund: Bevor die 1200 Tonnen schweren Stahlsegmente des Tokamaks miteinander verschweisst werden, müssen alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sein, denn die verbundenen Segmente können nicht mehr bewegt werden für spätere Anpassungen oder Inspektionen.

Die ASN benennt mehrere Probleme, die zu klären sind, ehe es weitergehen kann. Dazu gehört die Halterung für den Tokamak aus Stahlbeton. Nach einigen Designänderungen während des Baus will die Behörde nachgewiesen haben, dass die Konstruktion weiterhin innerhalb der Sicherheitslimiten liegt. Auch zum Strahlenschutz und zu Verformungen an den Stahlsegmenten verlangt sie weitere Details, wie «Science» berichtet.

Bereits zuvor hatte das Vorhaben mit Verzug zu kämpfen. 2016 hiess es, das erste Plasma werde Ende 2025 erzeugt. Immer wieder ist von Verzögerungen zu hören, insbesondere wegen der Pandemie und Zulieferproblemen. Im letzten September teilte Generaldirektor Bernard Bigot mit, dass Dezember 2025 nicht mehr zu schaffen sei. Wie gross der Rückstand sei, lasse sich nicht sagen, weil viele Arbeiten parallel liefen, Verluste auch wieder aufgeholt würden, sagt Iter-Sprecher Laban Coblentz. Bei der nächsten Sitzung des Iter-Rats im Juni soll darüber beraten werden, im November könnte ein neuer Zeitplan beschlossen werden.

Der könnte noch erschreckender ausfallen als bis vor kurzem gedacht. Denn Russland ist ebenfalls an Iter beteiligt, neben Europa, Indien, Japan, Südkorea und den USA. Kein Konflikt zwischen den Mitgliedern habe bisher das Gemeinschaftsgefühl bei dem Vorhaben beeinträchtigt, sagt Coblentz. «Die Ereignisse, die wir in den letzten Tagen miterlebt haben, sind beispiellos.» Man wisse noch nicht, welche Auswirkungen sie hätten.

In jedem Fall kosten die Verzögerungen Geld. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich der Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments am Montag dieser Woche mit Iter befasst hat. Der andere sind schwere Vorwürfe zu Missmanagement bei der Iter-Organisation, die die Anlage baut, sowie bei «Fusion For Energy» (F4E) in Barcelona, die für die europäischen Beiträge verantwortlich ist. Die Schweiz war dort bis 2020 beteiligt, derzeit wird eine neue Kooperationsvereinbarung mit Iter erarbeitet. Sowohl bei Iter als auch bei F4E gebe es gravierende Managementprobleme, erklärte Michel Claessens vor dem Ausschuss in Brüssel. Er war lange Sprecher für Iter und wurde gemäss seinen Angaben kurz nach der Amtsübernahme von Bigot im Jahr 2015 seiner Funktion entbunden. Später folgten Stationen bei F4E und der Europäischen Kommission.

Nun, nach seiner Pensionierung, spreche er als Whistleblower öffentlich, auch um seine «tausend Kollegen zu unterstützen, von denen die meisten aus Angst vor Repressalien schweigen und weiter schweigen werden». Es ist schwer zu unterscheiden, inwiefern seine Anschuldigungen auf reale Missstände zurückgehen oder auf persönliche Erlebnisse.
Startups könnten profitieren

Fakt ist, dass im Mai 2021 ein Mitarbeiter bei F4E sich das Leben genommen hat. Ob dies mit übermässiger Arbeitsbelastung zusammenhing, lässt sich nicht sagen. Grundsätzlich sei die Belastung hoch, gab F4E-Direktor Johannes Schwemmer in der Anhörung zu. In einer Untersuchung, ausgelöst vom Aufsichtsrat, sei aber keine direkte Verbindung zwischen Arbeitsumfeld und Suizid festgestellt worden. Als die Mitarbeiter das gehört hätten, so Schwemmer, sei es zum Aufruhr gekommen, im November streikten sie sogar. Nun soll es weitere Untersuchungen zu dem Vorfall geben.

Über die Verzögerungen beim Bau und die Nachrichten aus F4E wird auch unter Fusionsforschern diskutiert. Das Vertrauen in den Erfolg von Iter sei nach wie vor da, sagt Ambrogio Fasoli von der ETH Lausanne und Direktor des Swiss Plasma Center. «Probleme in einer Institution bedeuten nicht, grundsätzlich an der Fusion zu zweifeln.» Dass eines der Fusion-Startups, die sich vor allem in Grossbritannien und Nordamerika befinden und Milliardenbeträge an Risikokapital für ihre Ansätze sammeln, letztlich schneller sein wird als Iter, glaubt Fasoli nicht. Dafür stünden sie noch zu sehr am Anfang. «Wenn ihnen Durchbrüche gelingen, könnte das auch uns nützen», sagt er. Stärkere Magnete beispielsweise könnten helfen, kleinere Fusionsreaktoren zu bauen und damit schneller in Betrieb zu nehmen.

Erschienen am 5. März 2022.
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