In Berlin zeigen sich die Konsequenzen des Abbaus eines wichtigen
wohnungspolitischen Schutzinstruments. Mein Beitrag in Deutschlandfunk Kultur am 25.10.22:
Die Berliner Hermannstraße ist eine der stark
befahrenen Hauptstraßen im Norden des Bezirks Neukölln mit viel
Gastronomie und Einzelhandel. Vor dem Haus Nummer 48 steht Ari, die seit
zwölf Jahren hier wohnt.
„Von außen ist es erst mal relativ unscheinbar,
normaler Altbau, Wohnhaus. Das ganze Gebäude besteht aber aus mehreren
Teilen, die wir gleich auch angucken. Es gibt zwei Hinterhöfe, und
ungefähr 120 Menschen sind dort zu Hause.“
Dieses Gebäude ist ein besonderes – wegen der
Wohngemeinschaften im ehemaligen Fabrikgebäude im Hinterhof, wegen des
dortigen Raums für politische Aktivitäten und wegen der Geschichte
seines Verkaufs.
Diese Geschichte steht für die Erosion eines
Schutzmechanismus der deutschen Wohnungspolitik: das kommunale
Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten. Die Hermannstraße liegt im
sogenannten Schillerkiez. Er grenzt an den ehemaligen Flughafen
Tempelhof und ist seit dessen Stilllegung eine beliebte Wohngegend. Die
Mieten und Immobilienpreise sind in den vergangenen Jahren stark
gestiegen.
Eine Hausgemeinschaft wehrt sich
Das vierstöckige Hinterhaus haben die Bewohner seit
den 1980er-Jahren aufwendig umgebaut. 80 Menschen leben hier in
Wohngemeinschaften. Im ersten Stock der ehemaligen Fabrik befindet sich
der Projektraum, ein spendenfinanzierter Raum für Kneipenabende,
Filmvorführungen und politische Veranstaltungen.
„Das ist unsere Wohnküche, und da gehen die Zimmer
davon ab. Aber das ist so ein zentraler Ort, wo man sich trifft, und
gemeinsam Kaffee trinkt.“
Annika lebt seit vier Jahren hier. Den Kaffee serviert die 32-Jährige in einer Tasse mit der Aufschrift: „H48 bleibt“.
Das war der Kampagnentitel, als die
Hausgemeinschaft Kundgebungen organisierte und Darlehen sammelte, um die
Hermannstraße 48 zu kaufen. Der Kampf ums eigene Haus begann mit einem
Brief zur Weihnachtszeit.
„Am 23. Dezember 2020 kam eine Nachricht, dass ein Kaufvertrag vorliegt und dass das Haus verkauft wurde.“
Die Eigentümerin wollte das Haus an eine
Immobilienfirma verkaufen. Allerdings liegt die Hermannstraße in einem
sogenannten Milieuschutzgebiet.
Das sind Stadtviertel, in denen die Kommune – im
Berliner Fall sind das die Bezirke – Schutzmaßnahmen ergreifen kann, um
einen Anstieg der Mieten und eine Verdrängung der Wohnbevölkerung zu
verhindern.
Klage statt Einigung
Zwei Monate haben die Bezirke nach einem
Vertragsabschluss Zeit, zu intervenieren und einen Vorkauf anzumelden.
Der Bezirk Neukölln machte davon Gebrauch – zugunsten einer von der
Hausgemeinschaft gegründeten Firma.
Die eigentlich vorgesehene Käuferin hätte das
abwenden können, wenn sie soziale Garantien für die Bewohner
ausgesprochen hätte, langfristige Mietverträge zum Beispiel. Doch sie
weigerte sich und klagte stattdessen im September 2021 gemeinsam mit der
Eigentümerin gegen die Intervention des Bezirks, erzählt Ari.
„Und zwei Monate drauf kam aus einer ganz anderen
Richtung, womit wir überhaupt nicht gerechnet haben, der herbe Schlag,
dass nämlich das Bundesverwaltungsgericht die ganze Verkaufspraxis
gekippt hat – also nicht nur für unser Haus, sondern für alle Häuser in
ganz Deutschland.“
Konsequenzen des Urteils
Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Fall eines
anderen Berliner Hauses das vom Bezirk ausgeübte Vorkaufsrecht für
ungültig erklärt. Es setzte grundsätzlich dem Recht der Kommunen, in
Wohnungsverkäufe zu intervenieren, enge Grenzen. In der Hermannstraße 48
hat das für die großen Wohngemeinschaften einschneidende Konsequenzen.
Der Verkauf an die Immobilienfirma ist mittlerweile
rechtskräftig, und die neue Eigentümerin könne die Mietverträge der
Fabriketagen innerhalb von drei bis sechs Monaten grundlos kündigen,
sagt Annika. Hier gelte nicht der übliche Kündigungsschutz.
Die frühere Eigentümerin habe den aufwendig
errichteten Wohnraum nie als solchen behördlich angemeldet, sondern den
Gewerbestatus aufrechterhalten. Entsprechend kurz sind die
Kündigungsfristen. Vor allem für Menschen mit Kindern sei das eine
bedrohliche Situation, sagt Annika.
„Viele Leute, die hier im Haus gewohnt haben mit
Kindern, die haben gesagt: Wir müssen uns jetzt schon was anderes
suchen, weil: Falls es nicht klappt, hier drum zu kämpfen, rechtlich,
dann brauchen wir irgendeinen Ort, wo wir bleiben können. Der Effekt
war, dass mehrere Menschen, die in großen Gemeinschaften gelebt haben,
mit Kindern, in kleinere Wohnungen umgezogen sind.“
FDP blockiert neues Gesetz
Die Hausgemeinschaft schloss sich dem im November 2021 gegründeten Bündnis „Neues Vorkaufsrecht jetzt!“
an. Es besteht heute aus 60 vor allem Berliner Hausgemeinschaften und
anderen Initiativen. Das Bündnis forderte während der damals laufenden
Regierungsbildung auf Bundesebene, das Vorkaufsrecht der Kommunen
gesetzlich zu verankern. Im Koalitionsvertrag steht dazu nur:
„Wir werden prüfen, ob sich aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt.“
Annika ist empört:
„Das ist für uns natürlich wie ein Schlag ins
Gesicht. Und für alle BerlinerInnen, und deutschlandweit, die von
Verkäufen ihrer Häuser betroffen sind, ihres Wohnraums, wo eine Frage
ist: Warum muss das erst noch geprüft werden, ob es da ein Instrument
braucht, um so einem Ausverkauf der Städte Einhalt zu gebieten?“
Zwar hat das SPD-geführte Bauministerium im April
einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem das Vorkaufsrecht der Kommunen
weitgehend wiederhergestellt werden soll. Auch die Grünen sind dafür.
Doch die FDP blockiert. Es gebe in der Regierung noch immer keine
Einigung dazu, teilt das Bauministerium auf Anfrage mit.
„Wir brauchen dringend ein neues Vorkaufsrecht“
Ob aus dem Entwurf jemals ein Gesetz werden wird,
ist unklar. Deshalb kritisiert auch Neuköllns Bezirksstadtrat für
Stadtentwicklung, Jochen Biedermann von den Grünen, die Bundesregierung.
Auf Anfrage schreibt er:
„Der vereinbarte Prüfauftrag dauert mir schon viel
zu lange. Wir brauchen dringend ein rechtssicheres neues Vorkaufsrecht.
Es war in den vergangenen Jahren eines der wichtigsten und
erfolgreichsten Instrumente gegen die katastrophalen Auswirkungen der
Immobilienspekulation.“
Biedermann hat von 2017 bis 2021 über hundert Mal
einen Hauskauf entweder verhindert oder sozialer gestaltet. Jetzt sind
ihm die Hände gebunden.
Schlimmer noch: Nach Angaben des Berliner Senats
gab es in der Hauptstadt wegen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts
bis Juli rund 50 Fälle, in denen Hauskäuferinnen soziale Zugeständnisse
nachträglich angefochten haben, die ihnen die Bezirke mit der Drohung
eines Vorkaufs abgerungen hatten.
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