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Aufregung um Amberg: "Ein Ausmaß, das fast irreal war"

Bundesinnen- und Heimat-Minister Horst Seehofer (CSU) war „sehr aufgewühlt" Anfang des Jahres. Das gab er so bekannt, und unter dem Eindruck dieser schwierigen Gemütslage kündigte er einen Gesetzentwurf an, der die Abschiebung straffälliger Asylbewerber erleichtern soll. Der bayrische Staatsminister des Innern, Joachim Herrmann (CSU), assistierte: Er wollte „alle Hebel in Bewegung setzen", um dies im Fall der Beschuldigten zu ermöglichen.

Seehofer und Herrmann bezogen sich damit auf eine Straftat, die sich am 29. Dezember 2018, einem Samstagabend, im bayrischen Amberg ereignete: Vier angeblich 17- bis 19-Jährige, „nicht unerheblich alkoholisiert", wie es die zuständige Staatsanwaltschaft ausdrückt, sollen dort willkürlich Menschen geschlagen haben. Die meisten Angegriffenen wurden leicht verletzt, zwei trugen „schwerere Verletzungen" davon, wie die Polizei mitteilt.

Normalerweise ist das eine Meldung für die Lokalzeitung, in diesem Fall aber sind die Verdächtigen Asylbewerber - und das, nur das, machte den Vorfall zu einem überregionalen Aufreger. Besser gesagt: Er wurde dazu gemacht, auch von bundesweiten Medien, die tagelang darüber berichteten.

Politiker wie Seehofer und Herrmann lieferten ihnen zusätzlich Stoff, die Lokalsache zu nationalisieren: „Wer wahllos auf unbeteiligte Passanten einprügelt, zeigt, dass er keinen Schutz in unserer Gesellschaft sucht", sagte Herrmann. „Die alkoholisierten Täter können in unserem Land kein Verständnis erwarten." Sie wurden noch am Abend gefasst, offenbar nur kurz nach dem letzten Angriff. Sie sitzen nun in Untersuchungshaft.

„Es war für uns etwas überraschend, dass so ein Riesenhype entfacht wurde", sagt Markus Müller, stellvertretender Leiter der „Amberger Zeitung". „Es sah wie eine normale Polizeimeldung aus", wenn auch die Zahl der Verletzten unüblich hoch gewesen sei. Als Müller las, dass Flüchtlinge verdächtigt werden, sei ihm zwar klar geworden, dass das ein größeres Thema würde. Aber die Dimension habe ihn verwundert.

Amberg kannten bisher wohl vor allem Menschen aus Bayern. Der Ort liegt in der Oberpfalz, gut 60 Kilometer östlich von Nürnberg. Etwas mehr als 40.000 Menschen leben dort, laut „Nürnberger Nachrichten" auch rund 1.000 Flüchtlinge.

Obwohl es in den Tagen nach den Taten keine neuen Informationen zu der Sache gegeben habe, seien immer mehr Kamerateams in die Stadt gekommen, um Bürgerinnen und Bürger auf dem Marktplatz zu befragen, erzählt Lokaljournalist Müller. Der Medienansturm sei vermutlich auch eine Folge der Artikel in „Bild" gewesen, die „einigermaßen reißerisch" berichtet habe.

So hatte das Blatt am Neujahrstag auch einen 13-Jährigen präsentiert, der behauptete, von einem der Angreifer in den Bauch getreten worden zu sein. Laut „Amberger Zeitung" soll der Junge polizeibekannt sein, und ob er hier die Wahrheit sagt, ist zweifelhaft: Ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberpfalz betont auf Anfrage, dass die zwölf Opfer zwischen 16 und 42 Jahre alt seien.

Ambergs Oberbürgermeister Michael Cerny (CSU) kritisiert die Medien: „Wenn es heißt, Claus Kleber vom heute-Journal des ZDF wünsche ein Interview mit dem OB von Amberg, fragt man sich schon, was hier eigentlich los ist", sagte Cerny den „Nürnberger Nachrichten". Das sei „völlig überdimensioniert." Auch ein Pfarrer aus Amberg wundert sich über die Aufregung: „Die Qualität des Gewaltausbruchs der vier jungen Flüchtlinge sei für Amberg, wie für viele andere Städte, wirklich nichts Neues". Er bezieht das wohlgemerkt nicht speziell auf Flüchtlinge. Auch er spricht von einem „Medienereignis".

Auf Anfrage von Übermedien sagt Oberbürgermeister Cerny:

„Letztlich waren jeder größere Fernsehsender und alle überregionalen Tageszeitungen vor Ort oder forderten zumindest ein Telefoninterview. Das hat irgendwann ein Ausmaß angenommen, das fast irreal war. Viele Pressevertreter waren im Gespräch eher verwundert, weil die erlebte Situation in der Stadt viel ruhiger und gelassener war, als sie es vermutet hatten."

So 25 bis 30 Medien hätten angerufen oder seien in Amberg gewesen, schätzt Cerny. „Die Ambergerinnen und Amberger sind sehr erstaunt über das breite Medienecho und halten es für überzogen." Bei einigen habe die Straftat, „aber vor allem auch die enorme und fehlerhafte Berichterstattung zu einer gewissen Verunsicherung geführt."

Im Interview mit „Spiegel Online" kritisiert Cerny auch, dass Seehofer die Amberger Vorfälle zum Anlass nahm, eine Verschärfung der bestehenden Gesetze zu fordern. Für Cerny ist auch das offenbar eine Überreaktion. Der CSU-Oberbürgermeister positioniert sich hier klar gegen seinen Noch-Parteichef.

Lokaljournalist Müller bestätigt die unterschiedlichen Linien: Im Gegensatz zu den Innenministern Herrmann und Seehofer habe Cerny auf den Vorfall „bedacht" reagiert und sich gegen eine politische Instrumentalisierung gewandt. Die CSU-Oberen aber verschärften bei ihrer Klausurtagung spontan ihre Haltung zu Abschiebungen.

Cerny hingegen zeigt sich im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auch verständnisvoll gegenüber Flüchtlingen: „Wenn man mit Asylsozialberatern spricht, dann sagen die, dass da ein gewisser Frust vorhanden ist." Enttäuschte Erwartungen im Hinblick auf das Leben in Deutschland und abgelehnte Asylbescheide seien mögliche Quellen für Frustrationen - „bei langen Verfahren kommt dann vielleicht noch das Thema Lagerkoller ins Spiel."

Natürlich mischte sich auch die AfD in die Sache ein. Ohne sie würden solche Fälle heute möglicherweise gar nicht so hoch gehängt, auch von Medien. Ereignisse aufzubauschen, die nur lokale oder bestenfalls regionale Relevanz haben, kommt gerade dann immer wieder vor, wenn Menschen aus dem Ausland beteiligt sind - und die AfD das lautstark aufgreift.

In Amberg kam hinzu, dass plötzlich auch von einer NPD-Bürgerwehr die Rede war, die in Amberg Streife laufe. Es kursierten auch Fotos davon. Und wieder gab es Aufregung, Medienberichte, Dementis. Oberbürgermeister Cerny sagt: „Das waren offenbar vier Männer der NPD aus Nürnberg, die ein wenig auf dem Löwen vor dem Rathaus herumgeturnt sind." Die NPD versuche wohl, „die Situation politisch auszunutzen". Und eben nicht nur sie.

Es war schnell die Rede davon, einer der Verdächtigen sei Syrer, was die Behörden inzwischen dementieren. Einer der Männer soll Iraner sein, die drei anderen Afghanen. Aber was für eine Relevanz hat die Nationalität hier überhaupt? Ist sie womöglich nur wichtig, weil bestimmte Kreise von der Herkunft auf die Motivation schließen? „Zur Versachlichung der Diskussion", schreibt die „Amberger Zeitung", habe Staatsanwalt Oliver Wagner erklärt, „dass es momentan ‚keinerlei Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund' gebe."

Medien machen die Welt mit ihrer Berichterstattung immer wieder klein. Menschen werden darüber informiert, dass 500, 600 Kilometer entfernt von ihnen eine Straftat stattgefunden hat. Das überfordert mit der Zeit.

Jahrtausende lang hörten Menschen nur Nachrichten aus der näheren Umgebung - und wurden nicht durch permanente Horrormeldungen aus aller Welt verunsichert. Das ist heute, dank Internet, natürlich ganz anders. Der physische Nahbereich prägt nicht mehr ausschließlich das Bewusstsein. Dass bei vielen so ein Bedrohungsgefühl entsteht, kann deshalb nicht verwundern.

Köln, Freiburg, Kandel und jetzt Amberg - fast jeder dürfte heute Straftaten aufzählen können, an denen Flüchtlinge beteiligt waren. Was auch damit zusammenhängt, dass über diese Fälle regelmäßig groß berichtet wird. Ähnliche Fälle, an denen Deutsche beteiligt sind, finden viel weniger Aufmerksamkeit, wie auch gegenläufige Berichte über beispielsweise sich positiv entwickelnde Kriminalstatistiken. Von Amberg aus wurde eine Nachricht ins ganze Land getragen, von der schon viele Leute vor Ort denken, dass der Vorfall nicht allzu beachtenswert sei.

Nachtrag, 16.1.2018. In einer ersten Version hatten wir geschrieben, laut Bürgermeister Cerny seien so 25 bis 30 Medienvertreter vor Ort gewesen. Ein paar davon hatten aber bloß angerufen. Wir haben das im Text korrigiert.

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