Rainer Dr. Werning

Sozial- und Politikwissenschaftler & freier Publizist, Frechen-Königsdorf

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Atomares Faustpfand

Chuseok, das traditionelle Erntedankfest in Korea, das in diesem Jahr am vergangenen Wochenende in Familienkreisen feierlich begangen wurde, war mal wieder von schrillen Tönen diesseits wie jenseits des 38. Breitengrads begleitet. In Südkorea (Republik Korea, ROK) hatten wenige Tage zuvor die seit Jahren größten Militärmanöver mit US-amerikanischen Streitkräften stattgefunden, in deren Verlauf ein Angriff auf den Norden simuliert wurde. In Nordkorea (Demokratische Volksrepublik Korea, DVRK) erklärte derweil deren Staatschef Kim Jong Un am 8. September laut der amtlichen Koreanischen Zentralen Nachrichtenagentur ( KCNA) in seiner Rede auf der Sitzung der Obersten Volksversammlung, des nordkoreanischen Parlaments: "Das Ziel der Vereinigten Staaten ist nicht nur die Beseitigung unserer Atomwaffen, sondern letztlich auch der Sturz unserer Regierung, indem sie (Nordkorea) zwingen, die Atomwaffen abzuschaffen und die Macht zur Selbstverteidigung aufzugeben oder zu schwächen."

Seit ihrem Amtsantritt im Mai hat die neue konservative südkoreanische Regierung unter Präsident Yoon Suk Yeol erklärt, dass sie eine härtere Gangart gegenüber Pjöngjang einschlagen werde. Am Freitag werden südkoreanische und US-Beamte in Washington "umfassende Maßnahmen" zur "Abschreckung" Nordkoreas erörtern, wie Seoul am Donnerstag laut der Nachrichtenagentur Reuters erklärte.

Pjöngjang verschärfte seinerseits den Ton im Zuge der jüngsten gemeinsamen elftägigen Militärmanöver der USA und Südkoreas. Vor allem zeigt sich Nordkorea enttäuscht über die Nukleargespräche mit den USA, die seit dem zweiten Gipfeltreffen zwischen dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump und Kim Jong Un im Februar 2019 in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi ohne eine Einigung endeten. Maßgeblicher Architekt des Scheiterns war seinerzeit Trumps nationaler Sicherheitsberater John Bolton, der immer neue Forderungen nachschob, was für die nordkoreanische Seite unannehmbar war.

Das Land arbeitet bereits seit Jahren daran, ein "größtmögliches Abschreckungspotential" aufzubauen, um sich gegen die USA zu wappnen. Washington hat im Zuge mehrerer entfesselter Kriege im Mittleren und Nahen Osten unter Beweis gestellt, wie wenig es sich letztlich um einmal getroffene - auch schriftlich fixierte - Vereinbarungen schert.

"Solange Atomwaffen auf der Erde verbleiben, der Imperialismus fortbesteht und die Manöver der Vereinigten Staaten und ihrer Anhänger gegen unsere Republik nicht beendet sind, werden wir unsere Arbeit zur Stärkung der Atomkraft nicht einstellen", hatte Staatschef Kim in seiner Rede am 8. September erklärt und damit den Status der DVRK als Atomwaffenstaat als "irreversibel" eingestuft. KCNA zufolge segnete die Oberste Volksversammlung am selben Tag ein entsprechendes Gesetz ab, wonach die DVRK einen nuklearen Präventivschlag ausführen kann, wenn festgestellt wird, dass ein Angriff jeglicher Art auf die nordkoreanische Führung und die Führungsorganisation der eigenen Atomstreitkräfte unmittelbar bevorsteht. Weitere sogenannte Denuklearisierungsverhandlungen werde es fortan nicht geben. "Wir werden unsere Atomwaffen niemals aufgegeben", hatte Kim weiter erklärt, "selbst wenn das Land 100 Jahre lang mit Sanktionen belegt würde."

Die beiden Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die USA und die Sowjetunion, hatten Korea entlang des 38. Breitengrads geteilt. Am 15. August 1948 verkündete Südkorea seine Unabhängigkeit, der Norden kurz darauf am 9. September 1948. Der anschließende Koreakrieg (1950-53), der als Bruderkrieg um die politisch-ideologische Vormachtstellung auf der Halbinsel begann, wurde von den USA internationalisiert und hinterließ einen riesigen Trümmerhaufen mit insgesamt weit mehr als vier Millionen Toten. Seitdem durchzieht die Halbinsel eine über 240 Kilometer lange demilitarisierte Zone, die die weltweit undurchlässigste, bestbewachte und höchstmilitarisierte Region darstellt.

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