Den Weg zu
Mati Broudos Haus zu finden erweist sich als kleine Schnitzeljagd
durch einen Parcours von Baustellen und gesperrten Straßen, alten
Geschäften und neuen Hochhäusern. Zwischen den engen Straßen von
Neve Tzedek, Tel Avivs ältestem Stadtteil, der 1887 noch vor der
eigentlichen Stadtgründung als erste jüdische Siedlung außer-
halb von Jaffa entstanden ist, hat der Unternehmer ein Kleinod der
israelischen Moderne gefunden und ausgebaut.
„Dieses
Haus war ein Desaster, keiner wollte es haben“, erzählt Broudo,
der als Gastronom vor allem historische Bauten bespielt, wie das
Herzl 16, das einst erste Kaufhaus mit dem ältesten Fahrstuhl der
Stadt. Dass sein heutiges Privathaus lange keinen Käufer fand, mag
man kaum glauben, erinnert es mit seiner weißen Fassade, den großen
Gitternetzfenstern und Rundbalkonen doch an die ikonischen
Bauhaus-Strukturen der angrenzenden Weißen Stadt. Das Ensemble aus
Ladenlokal und Wohnhaus wurde in den dreißiger Jahren als arabische
Interpretation des Internationalen Stils gebaut. Doch mit der
Ausbreitung der Stadt nach Norden verwaiste Tel Avivs erstes Viertel
zunehmend. In den sechziger Jahren galt es sogar als Slum. Die
vergleichs- weise kleinen Häuser standen leer und verfielen nach
und nach, so wie Broudos Haus, das zuletzt nur noch als
Klamottenlager diente. „Dabei
sehe ich dieses Gebäude als bessere Version des Bauhaus-Ethos. Es
ist viel offener und optimaler an das mediterrane Klima angepasst“,
sagt er.
Die Restaurierung hat er zusammen mit dem lokalen Architekturbüro AN+ geplant und ist 2012, nach zwei Jahren Umbauzeit, in die oberste Etage des Gebäudes eingezogen. Dort bewohnt er eine zunächst 110 Quadratmeter, mittler- weile 170 Quadratmeter große Wohnung mit einem Glaskubus auf dem Dachgarten. Auf insgesamt 600 Quadratmetern sind drei weitere Wohneinheiten und, wie in der ursprünglichen Mischnutzung vorgesehen, zwei Gewerbeeinheiten entstanden. „Eigentlich war meine Wohnung als Junggesellenbude gedacht, aber dann ist meine neue Lebensgefährtin mit- samt Kind eingezogen. Mittlerweile sind wir zu sechst mit einem Hund. Und wir haben es geschafft, es so umzugestalten, dass wir bleiben können“, erzählt der Gastronom.
Die
Dachgartenwohnung ist in jeglicher Hinsicht ein unorthodoxes
Familien- heim, in dem der Nachwuchs, gerade vier, sieben und zwölf
Jahre alt, mit jedem Jahr selbstbewusster seinen Raum einfordert.
So ist die Wohnung im Wandel. Ihr jeweiliger Zustand, sagt Broudo,
sei Verhandlungssache mit den Kindern. Sie forderten ihn mit ihren
Ideen, Plänen und Bedürfnissen immer wieder heraus, die Wohnung
weiter zu verändern. Zunächst
ließ Broudo in der unteren Etage Wände für zwei Kinderzimmer
einziehen, das zuvor verglaste Bad bekam einen Sichtschutz, und die
Nische unter der Wendeltreppe hat sich in ein kleines Atelier
verwandelt. Der pflanzen- umrankte Dachgarten wurde um zwei
zusätzliche Glaswürfel erweitert, um Platz für das
Elternschlafzimmer und Arbeitsbereiche zu schaffen.
Der Kern,
die Offenheit, ist geblieben. Die Räume sind zwar so verwinkelt,
dass man immer irgendwie vor den Blicken der anderen versteckt ist,
doch gibt es nur wenige Ecken, in denen die Bewohner wirklich
isoliert sind und allein sein können. Auch im
Inneren der Glaskuben auf der Dachetage dominiert die Moderne. Neben
Holzmöbeln aus der Zeit Napoleons II. besteht die Einrichtung vor
allem aus dänischen Mid-Century-Stücken und Bauhaus-Klassikern
sowie Stühlen von Hans Wegner und Marcel Breuer. Es sind oft
Überbleibsel aus seinen eigenen Projekten, etwa der Einrichtung des
israelischen Biennale-Pavillons, die der Unternehmer 2013 für die
Schau in Venedig bereitgestellt hatte. Oder ausrangierte Möbel aus
dem Boutique-Hotel Montefiore, das er mit seiner Geschäftspartnerin
Ruti Broudo betreibt. Dazwischen zeitgenössische Kunst von
Institutionen, die er unterstützt; ein Sammelsurium persönlicher
Geschichte.
Und die
Geschichte, die könnte er kaum besser verkörpern. Broudo ist
Nachkomme sephardischer Juden aus Andalusien, die erst vor der
Inquisition nach Izmir geflohen und von dort Mitte des 19.
Jahrhunderts nach Jaffa umgesiedelt sind. Während des Ersten
Weltkriegs wurde seine Familie über Port Said nach Alexandria
deportiert, wo sein Großvater der Jüdischen Legion der British
Army gegen die Osmanen beitrat. Mati Broudo selbst ist in Jaffa
geboren, in Jerusalem, Paris und New York aufgewachsen, wo sein Vater
für die israelische Fluggesellschaft El Al gearbeitet hat under selbst
zunächst als Computerspezialist tätig war.
Erst in
den neunziger Jahren, mit Ende dreißig, ist Broudo in seine alte
Heimat zurückgekehrt, wo er mit seiner damaligen Partnerin ein
Bauhaus-Gebäu- de auf dem Rothschild-Boulevard bezog. „Das war,
lange bevor das Bauhaus in Israel wiederentdeckt wurde. Wir wohnten
jahrelang in diesem Gebäude, und es war nichts. Eines Tages sind
wir aufgewacht, es war 2003, und die Unesco hat das Tel Aviver
Bauhaus zum Weltkulturerbe erklärt. Das war für mich zunächst
merkwürdig, denn das Bauhaus verkörpert einen Teil dieses
Debakels zwischen Israelis und Arabern. Diese Idee, etwas
Europäisches in den Nahen Osten zu bringen und damit das dagewesene
Arabische zu verdrängen, ist ein durch und durch kolonialistischer
Gedanke – das hier ist das ästhetische Herz des Kolonialismus“,
erzählt er. Schließlich ist der Internationale Stil vor allem
ein westliches Konstrukt. Die Weiße Stadt wurde von aschkenasischen
Juden aus Europa erbaut, die in der Zeit des Völkerbundsmandats
für Palästina zur Mehrheitsgesellschaft wurden.
Ebendiesen
Wandel der Demographie und mit ihr der ästhetischen Form sieht man
vom pflanzenumrankten Dachgarten seines Hauses aus: Nur ein paar
Kilometer südlich liegt das historisch arabische Jaffa, dann
kommen die eklektischen Bauten aus der Gründungszeit von Tel Aviv
Anfang des 19. Jahrhunderts, im Zentrum des Internationalen Stils
liegt Broudos Heim, dann geht es ins Bauhaus über, an das sich der
Beton-Brutalismus und die
Gegenwart anschließen. Folgt man der Ausdehnung der Stadt nach
Norden, tritt man alle paar Kilometer in eine neue Dekade der
Architekturgeschichte ein. Mehr noch:
„Wir sind hier auf dem historischen Weg nach Jerusalem. Ein paar
hundert Meter entfernt liegt der alte Bahnhof HaTachana, der erste in
der Levante, der direkt nach Jerusalem führt. Das hier ist quasi
das Tor nach Jerusalem“, sagt Broudo.
Seinen Lieblingsplatz hat er im Wohn-Arbeitswürfel gefunden. Von dort blickt man über Palmen auf die Küste, die von Dächern und Hochhäusern verdeckt ist, die nur hier und da kleine Tupfer Meeresblau freigeben. Es sind die Zeugen der Gegenwart, die der Gentrifizierung, die auch vor den engen Gassen von Neve Tzedek nicht haltmacht. Wie überall waren es erst die Künstler, die das zentral gelegene Viertel Ende der neunziger Jahre entdeckt und es später für Investoren interessant gemacht haben. Um das Haus, das auf einem Stück Land von gerade 160 Quadratmetern steht, lärmen Baustellen. Bald wird ein paar Straßenzüge weiter eine Schnellbahn verlaufen. Einige der umliegenden Bauten sind schon neuen Hochhäusern gewichen. Vielleicht wird auch dieses Haus, das trotz seiner historischen Struktur nicht denkmalgeschützt ist, irgend- wann einem Wolkenkratzer weichen müssen. Aber Mati Broudo sieht es pragmatisch. „Das ist der Lauf der Dinge. Die Stadt entwickelt sich, und wenn sie sich nicht horizontal ausbreiten kann, wächst sie eben nach oben.“
Zum Original