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Pferde als Schlüssel zur eigenen Gefühlswelt

Pferde als Schlüssel zur eigenen Gefühlswelt

Montagmorgen auf dem Schulzenhof: Sanft stupst Arthos Marie mit dem Maul an die Schulter. Der Wallach will mit der Neunjährigen schmusen, doch Marie möchte das heute nicht und weicht zurück. „Die Kinder entscheiden in jeder Therapiestunde selbst, was sie brauchen und wozu sie bereit sind“, sagt Peter Rave. Denn ein Ziel ist, dass die Kinder und Jugendlichen durch die pferdegestützte Therapie auch lernen, mit Nähe umzugehen.

Peter Rave ist Diplom-Reittherapeut am Zentrum für Seelische Gesundheit in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) des Klinikums Stuttgart. Bereits seit 2012 bietet die Klinik für ihre Patient:innen Reittherapie an. Möglich war und ist das nur durch die finanzielle Unterstützung der Olgäle-Stiftung.

Ein langer Feldweg durchs Grüne führt zum idyllischen Schulzenhof in Filderstadt-Plattenhardt. Meist holt Peter Rave die Mädchen und Jungen zur ersten Therapieeinheit direkt von der Haltestelle ab. Denn für viele seiner Patient:innen ist schon die Anreise ein Stressfaktor: „Die Reittherapie bietet die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen und manches einfach mal außen vor lassen zu können. Sie sollen hier im Kleinen lernen, was sie draußen an Herausforderungen erwartet“, sagt der 62-Jährige.

Die Kinder und Jugendlichen, die zu ihm auf den Reiterhof kommen, leiden an Depressionen, Ess-, Zwangs-, Kontakt-, Persönlichkeits- oder Autismus-Spektrum-Störungen. Die Reittherapie sei zwar auch ein klinisches Angebot, würde aber von den Patient:innen nicht so wahrgenommen.

Selbstwertgefühl, Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit

Arthos Fell glänzt in der Sonne und seine Mähne ist heute besonders schön geflochten. Gemeinsam legen Marie und Peter Rave Arthos den Sattel auf. Weil Pferde Fluchttiere sind, scannen sie ihre Umgebung stetig auf Gefahren und kommunizieren diese schnell zurück. Doch auch als der Therapeut wild mit einer Gerte herumfuchtelt, bleibt das Pferd ruhig.

„Warum ist Arthos nicht ängstlich?“, will Peter Rave von Marie wissen. „Weil er weiß, dass es ihm hier gut geht und er Vertrauen zu uns hat“, antwortet sie. Doch auch wenn der Haflinger gerade gesattelt wird, Reiten spielt in der pferdegestützten Therapie nicht die zentrale Rolle. Es geht vielmehr um den angstfreien und vertrauensvollen Kontakt und Umgang mit dem Tier.

Das Pferd dient als Medium. „Es kann dabei helfen, Zugang zur eigenen Gefühlswelt zu bekommen, sich wieder auf Beziehungen einlassen zu können“, so der Mitarbeiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Vielen der Patient:innen fehle es an Selbstwertgefühl, Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit.

Das Pferd als Medium

Das Pferd akzeptiert den Menschen so wie er ist – mit seinen Stärken und Schwächen. „Es ist nicht voreingenommen, kennt keine Diagnose und hat deshalb auch keine Vorurteile. Darum ist das Vertrauen des Tieres schon zu Beginn der Therapie vorhanden“, sagt der Reittherapeut.

Andererseits würden aber auch durch das Verhalten der Kinder und Jugendlichen Enttäuschungen oder unerfüllte Wünsche direkt auf das Pferd projiziert. Kommunikationsstörungen würden dadurch sichtbar, so dass an ihnen direkt gearbeitet werden könne. In der Reithalle angekommen, steigt Marie vorsichtig auf den Rücken des Pferdes, um mit ihm auf den davor von ihr selbst aufgebauten Parcours zu gehen.

Das Pferd reagiert aufmerksam auf kleinste Bewegungen und Reaktionen des Mädchens. Sie atmet laut aus, wenn der Haflinger stehen bleiben soll und macht sich selbstbewusst ganz groß, als Signal dafür, dass das Tier weitergehen soll. So hält sie einen guten Kontakt zum Pferd und lobt es, weil es sie versteht. Am Schluss der Stunde darf sich Arthos noch frei in der Halle bewegen und rollt sich freudig durch den Sand, was auch Marie freut.

Im Stall blühen die Kinder auf

Auch Jonas ist heute zur Therapiestunde auf dem Hof. Der Elfjährige leidet an einer emotionalen Störung. „Die Reittherapie ist für ihn der Höhepunkt der Woche“, berichtet seine Mutter. „Sie tut ihm sehr gut. Jonas kann dadurch seine Gefühle besser beschreiben, mehr in sich selbst reinhören. Ich erlebe meinen Sohn hier bei der Reittherapie anders, viel selbstbewusster“, freut sie sich.

Im Stall blühen die Kinder auf „Es ist schön zu sehen, wenn ein Prozess in Gang kommt. Also wenn sich die Kinder und Jugendlichen in ihrer Kommunikation und Körpersprache öffnen und wieder Vertrauen schöpfen können – zum Therapeuten, zum Pferd und vor allem zu sich selbst“, freut sich auch Peter Rave.

Manche Patient:innen kommen, je nach Absprache mit den Psychotherapeuten der Klinik, für drei bis vier Therapiestunden auf den Schulzenhof, andere dagegen kommen viele Wochen, je nach Diagnose und Entwicklungsstand.

Zurück im Aufenthaltsraum blättert der Reittherapeut durch ein Fotoalbum. Das hat er gemeinsam mit den Patient:innen angelegt, um deren Entwicklung im Zusammenspiel mit den Pferden zu veranschaulichen. Einige Fotos sind zu Beginn ihrer Therapie entstanden, einige gegen Ende.

Die Fortschritte lassen sich gleich erkennen: Anfangs schienen die Kinder eher distanziert und zurückhaltend zu sein, während sie im Verlauf der Zeit richtig aufblühten. „Viele Eltern, die in die Arbeit eingebunden wurden, bekommen durch die gemeinsame Zusammenarbeit in der Reittherapie oft ein ganz neues Bild von ihrem Kind und manchmal sogar auch von sich als Eltern“, so Peter Rave.