Zerrissen zu sein, nirgendwo richtig hinzugehören ist ein zentrales Motiv in diesem Roman. Es findet sich nicht nur in der Thematik, sondern auch in der Sprache wieder, darin, wie erzählt wird.
Auf die unbeschwerten Sommerferien in der Heimat ihres Vaters folgt ein Einschnitt, der alles ändert: der Beginn der Unruhen in Syrien, die in einen immer noch andauernden Krieg münden - und in den schrecklichen Genozid an den Jesidinnen und Jesiden. So brechen die Sommer in der Heimat ihres Vaters ab. Damit fängt das Erinnern an.
Ronya Othmann erzählt nicht nur die Sommer der jungen Leyla und wie sie von Deutschland aus den Konflikt in Syrien beobachtet. Sie lässt auch Leylas Vater sprechen - über seine Flucht, über die Verfolgung der Jesidinnen und Jesiden und über seinen vergeblichen Versuch, zu studieren. Wenn der Vater erzählt, liest es sich, als säße er neben dem Leser, dem er Sonnenblumenkerne-knackend berichtet.
Während Leyla feiert, scheint plötzlich ihre Familie in Syrien in Gefahr. Viele Orte, an denen Leyla in ihrer Kindheit Verwandte besucht, kennen viele nur aus der Kriegsberichterstattung: Aleppo, Kobane und Damaskus. Durch den Roman kommen sie näher, werden mit Leben gefüllt.
Liest man das Buch, drängt sich der Gedanke auf, dass Leyla gleich Ronya ist. Wie die Hauptfigur des Buches hat die Autorin einen jesidischen Vater und eine deutsche Mutter und hat viele Sommer im Dorf der Familie in Nordsyrien, oder Kurdistan, wie sie sagen würde, verbracht. Othmann erklärt: "Sie wäre schon meine Schwester oder wie so eine Zwillingsschwester. Wir sind ungefähr gleich alt, ihre Familiengeschichte ist ähnlich wie meine. Ich erzähle über etwas, was ich kenne, aber nicht über mich."
"Die Sommer" ist ein Buch, das einfühlsam von Zerrissenheit erzählt, davon, zwischen den Stühlen zu sitzen. Aber auch ein Buch, was schmerzlich Ohnmacht schildert. Die Ohnmacht derer, die einen Konflikt aus der Ferne beobachten müssen. Das eigene Leben, das passiert während im Fernsehen, im Feed und bei den Verwandten gekämpft, vertrieben und geflohen wird.
Ronya Othmann schreibt aus ihrem Inneren heraus, so wirkt es, berührt und fügt mit ihrem Debüt der Gegenwartsliteratur eine Perspektive hinzu: eine jesidisch-kurdisch-deutsche Geschichte.
Mehr Informationen Ronya Othmann: "Die Sommer" Roman 288 Seiten Verlag: Hanser ISBN: 978-3-446-26760-2 22 Euro Erscheint am: 17. August 2020