Philipp Woldin

Managing Editor WELT AM SONNTAG/Hamburg

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Verführung hinter Gittern

Als er ins Gefängnis kam, sei er noch ein ganz normaler Muslim gewesen, sagt der Mann, der später zum IS-Kämpfer werden sollte. Nach seiner Zeit im Knast ging alles ganz schnell für Harry S., den Jungen aus dem Bremer Problemviertel Osterholz-Tenever, doch nun ist seine Reise zu Ende. Harry S. steht inzwischen vor Gericht. Im streng gesicherten Saal 237 des Hamburger Oberverwaltungsgerichts läuft der erste Prozess in der Hansestadt gegen einen IS-Rückkehrer. Angeklagt ist er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland und Verstößen gegen Waffengesetze.


Der 27-Jährige ist geständig, er spricht an diesem Vormittag auch über die Zeit vor den Kalaschnikows, den Wegwerfhandys und Augenbinden, von seinen ersten Kontakten zu Salafisten und über die neuen "Brüder", die er während seiner Zeit in der Justizvollzugsanstalt Bremen kennenlernt. Damals sitzt er eine Haftstrafe wegen eines Raubüberfalls ab. In der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft heißt es: "Harry S. wurde in der Justizvollzugsanstalt durch Mitgefangene psychologisch beeinflusst."

Es geht vor allem um einen Mann, um René Marc S., in der Szene bekannt als der "Emir von Bremen-Gröpelingen". Vor Gericht beschreibt ihn Harry S. als eine Art "großen Bruder", gegenüber dem "Weser-Kurier" formuliert er es so: "Dieser Mann hat eine Anziehungskraft, das können Sie sich nicht vorstellen. Er kannte auf alle Fragen eine Antwort."


Hinter Gittern lauern die Verführer, und sie warten auf Häftlinge wie Harry: kaputter Lebenslauf, leicht beeinflussbar, ohne echte Perspektive nach der Haft. Es sind die "Brüder", die den Gefangenen in den ersten schweren Wochen beistehen, in denen alles dunkel ist und die Hoffnung so fern. Diese Leere füllen die Islamisten mit Ideologie auf, sie teilen die Welt in schwarz und weiß ein, in Brüder und Ungläubige, flüstern den Gescheiterten ein, sie seien zu Höherem berufen. In vielen Lebensläufen von europäischen IS-Kämpfern ist eine Haftstrafe der Wendepunkt, auf den Gefängnisfluren radikalisieren sie sich.

Laut Justizbehörde sitzen aktuell drei Islamisten in Hamburger Gefängnissen, die Dunkelziffer an selbst ernannten "Predigern" dürfte deutlich höher liegen. Die Politik hat die Gefahr spät erkannt, die in den Knästen vor sich hingärt. Seit Anfang des Jahres stemmen sich ein Imam und ein Islamwissenschaftler gegen die Verführer, sie besuchen die JVA Fuhlsbüttel und die JVA Billwerder und bieten "muslimische Gesprächskreise" an. Die Schura, der Rat der islamischen Gemeinden in Hamburg, unterstützt das Projekt. Es ist ein Ringen um die Herzen der Gefangenen und ein Kampf gegen eine Macht, die im Hintergrund arbeitet.


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