Philipp Nagels

Freier Journalist, Diplom-Psychologe

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Schokolade als Leistungssport - WELT

Nach der Wende hat er alles verkauft, ist ab nach Australien, lernte Grafiker, wurde Kellner, dann Koch. Heute produziert Alex Kühn handgemachte Schokolade von höchster Qualität. Leidenschaft, die man schmecken kann - wie macht man das? Das macht man in Thüringen.

Ein mediterraner Abend sollte es werden, große Show mit Feuer, was richtig Cooles. Doch dann sprang der Koch ab, eine halbe Stunde vor Beginn. Alex Kühn (44) arbeitete damals, mehr als 20 Jahre ist das her, als Kellner in einem französischen Restaurant. „Ich stand dann plötzlich vor den ganzen gebuchten Gästen und konnte gar nicht kochen. So ging das los."

Er grinst. „Ich habe dann irgendwie gequatscht und Feuer gemacht und danach kamen die Leute zu mir: ‚Ey, was war das denn für ein geiler Abend?'" Und mehr als das: Es war ein wegweisender Abend - für Kühn selbst. Etwas verloren war er zu der Zeit, hatte manchmal keine eigene Wohnung, lebte bei Freunden und Familie.

Viele Talente, aber kein klarer Weg

Viele Talente, aber kein klarer Weg in Sicht. Bis zu dem mediterranen Abend. Kühn, gelernte Grafiker, hatte die Menükarten dafür gemalt, unterhielt die Gäste mit Anekdoten, Kochshow und „der Klampfe in der Hand". Er realisierte: „Alle meine Interessen, für die es schwierig war, einen Beruf zu finden, habe ich auf einmal beim Essen wiedergefunden." Ein Weg tat sich auf; kein einfacher, aber sein Weg.

Kühn sitzt vor seinem Laden in Erfurt, der Goldhelm Schokoladen Manufaktur. Erst einmal kein Kaffee für ihn, er hatte heute schon fünf. Guter Typ, das weiß man gleich. Basecap, Dreitagebart, T-Shirt und Jeans, dazu lässige Boots. „Ich habe da in dem Restaurant, 100 Kilometer von hier entfernt, mehr mitbekommen, als damals in Australien", erzählt der „Erfurter Unternehmer des Jahres 2017".

Geld verdienen mit Dingen, die glücklich machen

Blick auf die Krämerbrücke, die sich seit vielen Jahrhunderten über die Gera spannt. Das älteste weltliche Bauwerk der Stadt, zu beiden Seiten Fachwerkhäuser. In der Nummer 15 sitzen die Eiskrämer, der Laden gehört auch Kühn.

In den Etagen darüber befinden sich Ferienwohnungen, die er vermietet. Sein Bruder Stefan führt das Bistro-Café Mundlandung im Haus 28. Früher seien sie gemeinsam mit dem Rennrad zu dem französischen Restaurant rübergefahren, erinnert sich Alex Kühn. „Da haben wir gelernt, dass man mit Dingen, die einem Spaß machen, auch Geld verdienen kann." Nicht selbstverständlich, wenn die Eltern malocht haben.

Man sieht und schmeckt das, ob da hinten jemand in der Küche steht und mit Liebe und Leidenschaft etwas produziert, oder nicht.

Zur Goldhelm Schokoladen Manufaktur gehören der Verkaufsladen, eine kleine Produktionsstätte und das Café an der Krämerbrücke, außerdem eine Produktionshalle in einem Gewerbegebiet. Jede Praline, jede Tafel Schokolade stellen Chocolatier Kühn und sein Team in Handarbeit her.

Der Chef macht das Verpackungs-Design selbst

80 Mitarbeiter hat er inzwischen. Die aufwändig gestalteten Verpackungen entwirft der Chef selbst, genauso jede Rezeptur. Tausende davon habe er mittlerweile gemacht, berichtet er, mehr als hundert Produkte führe Goldhelm aktuell. Ein wahnsinniger Aufwand. Frage an den Mann mit der Basecap: Warum das alles? „Man sieht und schmeckt das, ob da hinten jemand in der Küche steht und mit Liebe und Leidenschaft etwas produziert, oder nicht."

Zwar würden auch die industriellen Convenienceprodukte immer besser, so Kühn, doch seine Kunden wüssten den Unterschied zu schätzen. „Wir klettern auf Bäume, wir pflücken Mirabellen und ich beziehe Kakao direkt aus Peru, anstatt einfach Kouvertüre einzukaufen." Um diesen Anspruch geht es ihm: Etwas mit Leidenschaft machen, aus Freude an der Sache, und so andere Leute überzeugen. „Dann kannst du damit auch Geld verdienen. Und selber glücklich leben."

Kühn ist gebürtiger Erfurter. Er war 16, als die Mauer fiel. Ein einschneidendes Erlebnis, klar. Die Stimmung in der Stadt war angespannt, so erinnert er das. Gleichzeitig öffneten sich ungekannte Möglichkeiten.„Man konnte sich neu orientieren, was neues machen. Für mich war klar: Ich wollte nur weg, reisen." Und dann gleich so weit weg wie möglich.

Die Brüder, Alex und Stefan, verkauften ihr Hab und Gut und machten das Abgefahrenste, was sie sich vorstellen konnten: One-Way-Ticket nach Sydney. „Einfach am Flughafen zu stehen und zu wissen: Alles, was man besitzt, ist in einem Rucksack" - das sei das Coolste an der ganzen Reise gewesen, erzählt Kühn. Die Freiheit, die Ungebundenheit. Sie hätten auch nur 30 Kilometer weiter fahren können, es wäre das gleiche Feeling gewesen. Was für ein Feeling war das denn? „Alles, was passiert, kann man machen. Weißte, was ich meine?" Seine hellblauen Augen blitzen unter dem Mützenschirm. „Es ist egal, wo du bist, sondern wie du wo bist." Straßencaféphilosoph Kühn.

Von der Erkenntnis zehre er immer noch und so habe er auch Goldhelm aufgebaut. Dinge zulassen, offen sein, machen können, was man will. „Das ist ein Grund, warum ich immer noch Bock habe, immer mehr Bock habe!"

Immer noch Bock, nach einem Dutzend Jahren Goldhelm. Alex Kühn hatte vor der Australien-Tour zunächst eine Grafikausbildung gemacht, danach in verschiedenen Jobs gearbeitet, in denen er unglücklich war. „Viel Dramatik dazwischen", so beschreibt er das. Dann die Arbeit in dem französischen Restaurant, zunächst als Kellner, später als Koch. 2005 schließlich half er bei seinem Bruder hier an der Krämerbrücke aus, wollte eigentlich wegziehen. Der machte ihn aufmerksam auf einen leerstehenden Laden.

Kleines Geld, großer Traum

Kühn hatte kein Geld, aber eine Idee: Er wollte Schokolade herstellen. Die Idee stellte er der Stiftung Krämerbrücke vor - und die sagte zu. Dass nicht derjenige mit dem meisten Geld, sondern mit der schönsten Idee den Zuschlag bekäme, „das ist eigentlich ein Konzept, das die Welt braucht", findet der Chocolatier. Und dann ging's los, als Ein-Mann-Betrieb, hier an der Brücke. „Machen kommt von machen, gell?"

Ich habe meine erste Schokolade einfach auf so einer Marmorplatte ausgezogen, wie so'n Klecks.

Mit einer Bürgschaft seines Vaters nahm Kühn einen Kredit auf, baute den Laden aus. Viel Geld für Ausstattung blieb nicht mehr, eine Gussform konnte er sich nicht leisten. „Ich habe meine erste Schokolade einfach auf so einer Marmorplatte ausgezogen, wie so'n Klecks." Rosa Pfeffer war das, die hat Goldhelm heute noch im Sortiment. Die unregelmäßige Form hat sich auch nicht geändert, sie ist ein Markenzeichen der Manufaktur geworden.

Seine Grafikerausbildung habe ihm damals geholfen, bei dieser Freistil-Produktionsweise, sagt Kühn. Er lacht: „Wenn du Glück hattest, hatte die Tafel 110 Gramm und wenn du Pech hattest, hatte sie 90." Die ersten Verpackungen improvisierte er aus Klarsichtfolie und einem Blatt Papier, das er bemalte und faltete. Erste Kunden seien damals reingekommen, hätten gefragt, was das denn sei. „Ich so: Ja, die mache ich selber. Und die: Ok, kaufe ich. Und ich: Hä, was?" Dieses ehrliche, handgemachte Produkt, es kam gut an.

Handarbeit braucht Kraft und Zeit

Kühn hat nun doch einen Kaffee bestellt. Er hat viel zu tun, aber die Zeit nimmt er sich. Man sitzt schließlich gemütlich zusammen und natürlich ist dieser Improvisationskünstler und Schokoimpresario ein phänomenal guter Schnacker. Anekdoten, erfahrungssatte Sentenzen und ehrliche Glaubensbekenntnisse wechseln sich munter ab in seinem Text. Ab und zu grüßt er vorbeigehende Passanten. „Das klingt jetzt alles so schön", erklärt er mit ernster Miene, „aber das, was wir hier machen, ist Leistungssport." Schokoladenprodukte auf dem Niveau herzustellen, händisch und mit möglichst regionalen Zutaten, das ist alles andere als selbstverständlich.

Wie geil muss eine Schokolade denn sein und was muss ich dafür nehmen, damit ich hier Leute dafür beschäftigen kann?

Der Druck durch industrielle Hersteller ist groß. „Ich muss echt rechnen jeden Monat und habe viele schlaflose Nächte", berichtet Kühn. Er könnte sich das Leben leichter machen: die bestlaufenden Produkte nehmen, Maschinen anschaffen und „Peace geht raus". Doch ein betriebswirtschaftlich bis ins Letzte optimiertes Business, das ist nicht sein Anspruch.

Kühn ist stolz darauf, dass er seine Mitarbeiter rund ums Jahr beschäftigt, trotz saisonaler Schwankungen bei den Absätzen. Die Lebensqualität, seine eigene und die des Teams, ist ihm enorm wichtig. Ein Faktor, der sich auch wieder auf die Produktqualität auswirkt, da ist er sich sicher. Diese „Liebe" sei in den Schokoladen zu schmecken.

Eine Unternehmung mit 80 Mitarbeitern führen, neue Produkte entwickeln, in jedem Prozess noch drinstecken - wie bekommt man das hin? „Ich fahre dreimal die Woche 100 Kilometer Rennrad, um einen Ausgleich zu haben." Kühn war früher Radsportler.

Thüringens Landschaft wird Schokolade

Dass entspannt sein und entspannt bleiben eine Aufgabe ist, das musste der umtriebige Erfurter erst lernen. Er wohnt mit seiner Frau und seinen drei Kindern etwas außerhalb, ein kleines Häuschen im Wald mit 40 Quadratmetern Grundfläche. Dort sitzt er abends oft mit seiner Frau im Garten. „Wir gucken auf die Bäume, die da rauschen und da kannste nochmal so viel Geld verdienen, dadurch wird der Baum auch nicht schöner." Auch das entspannt: Das ganze Schaffen aus Freude an der Sache, nicht aus Geldstreben.

Bei seinen Radtouren durch das Umland kommen Kühn auch Ideen für neue Kreationen. Die „Inselsberge", Nougat-Schokoladen-Trüffel mit ganzer Haselnuss, entstanden drei Wochen, nachdem er den Großen Inselsberg im Thüringer Wald gesehen hatte. Die „Le Tour Schokolade" hat Kühn zusammen mit Marcel Kittel entworfen, Profiradfahrer aus der Region und mehrfacher Tour-de-France-Etappensieger. „Am Leben teilhaben", so nennt der Goldhelm-Chef das.

Sein Rezept für neue Rezepturen: Mit offenen Augen und Geschmacksknospen durchs Leben gehen, sich inspirieren lassen, Dinge aufnehmen. Bis vor kurzem habe er japanische Limette für seine Produkte verwendet, erzählt Kühn, die habe er jetzt aussortiert zugunsten von Mirabellen aus der Region. „Wenn du diese Mirabelle zum richtigen Zeitpunkt pflückst, hat die noch die Säure und eine Frucht, du beamst dich weg!"

Goethe war auch schon mal da

Alex Kühn hält es kaum auf seinem Stuhl, echte Begeisterung. Diesen Weg möchte er weiter beschreiten, mehr mit der Natur machen. Deswegen hat er einen Bauernhof gekauft, zehn Autominuten von der Manufaktur entfernt. Aktuell wird der ausgebaut, im Sommer 2019 soll die Produktion von dem Gewerbegebiet dorthin verlagert werden. „Das ist so ein altes Fachwerkhaus. Das war schon mal ein Rittergut und eine alte Postkutschenstation", berichtet Kühn. Und dass Goethe da schon mal Halt gemacht habe.

Große Pläne hat er für den Hof. Früchte anbauen, einmachen und verarbeiten, Kühe, die Milch liefern für das Eis der Eiskrämer. „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Natur uns allen gut tut." Ein gesteigertes Bewusstsein für ehrliche, handwerklich produzierte Produkte habe er in den vergangenen Jahren bei seinen Kunden beobachten können, sagt Kühn.

„Es wird immer mehr wertgeschätzt, es gibt hier immer mehr Menschen, die das Leben genießen möchten." Für diese Menschen soll es auf dem Hof dann auch Seminare und Veranstaltungen geben. Wenn sie Glück haben, vielleicht sogar etwas mit Feuer, Klampfe und Geschichten aus aller Welt - die große Alex-Kühn-Show.

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