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Enteignungen für den Wohnungsbau

MieterEcho 414 / Februar 2021

Tiefe Eingriffe in das Privateigentum an Grund und Boden waren in der Vergangenheit ein wichtiger Baustein für eine soziale Wohnungspolitik in Deutschland

Von Philipp Möller

Die politische Auseinandersetzung mit der Bodenfrage reicht weit zurück und begann bereits mit der kapitalistischen Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts. Die Bewegung der Bodenreformer um Adolf Damaschke forderte angesichts der massiven Wohnungsnot in den Städten öffentliche Eingriffe in das Grundeigentum und steuerliche Abgaben auf seinen Besitz. Doch erst nach dem Sturz der Monarchie und dem Übergang in die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik geriet Bewegung in die Bodenfrage. Der Erste Weltkrieg hatte die Wohnungsnot in vielen Städten deutlich verschlimmert. Die revolutionären Umtriebe in der Gesellschaft trieben den Staat dazu, regulatorisch in den Wohnungsbestand einzugreifen, den Mieterschutz auszubauen und das Grundeigentum zu beschränken.

Im Januar 1919 erließ die Reichsregierung die „Verordnung zur Behebung der dringendsten Wohnungsnot" (Behebungsverordnung). Sie sah Enteignungen von Grundstücken zum Zwecke des Wohnungsbaus kleiner und mittelgroßer Wohnungen gegen Entschädigungen vor. Voraussetzung war, dass „Bauland in passender Lage zu angemessenem Preise nicht zur Verfügung" stand. Angesichts der nachkriegsbedingten Materialknappheit regelte die Verordnung auch die Enteignung von Baustoffen wie Holz, Sand und Kies und berechtigte die neu geschaffenen Bezirkswohnkommissare „die Ausführung aller von ihm nicht für erforderlich erachteten Bauten, insbesondere Luxusbauten zu verbieten". In Berlin wurde die Verordnung etwa beim Bau der Neuköllner Siedlung am Dammweg angewendet. Den ersten Abschnitt errichtete der Bezirk direkt nach dem Krieg in eigener Regie und enteignete die dafür notwendigen Grundstücke. Zuvor waren die Verhandlungen über den Grunderwerb mit dem Eigentümer gescheitert.

Die drastischen Beschränkungen des Grundeigentums fanden wenige Monate später auch Eingang in die Weimarer Verfassung. Wohnungspolitisch bedeutete das eine Abkehr vom Liberalismus. Zwar garantierte die Verfassung grundsätzlich Privateigentum, Erbrecht und Vertragsfreiheit. Als Zugeständnis an die Bodenreformer sicherte sie dem Staat jedoch zugleich umfangreiche Eingriffsrechte in der Verfügung über Grund und Boden. Im Artikel 155 Abs. 1 hieß es: „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern." Die Grundbesitzer standen bei der Bodennutzung gegenüber der Gesellschaft in der Pflicht. Bodenwertsteigerungen, die ohne Arbeits- oder Kapitalaufwendungen am Grundstück entstanden, sollten für die Gesamtheit nutzbar gemacht werden. Enteignungen zur „Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses" und „zur Förderung der Siedlung" waren ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen.

Neues Frankfurt

Dokumentiert sind großflächige Enteignungen von Grundeigentum zum Zwecke des Wohnungsbaus für das Projekt „Neues Frankfurt". Sieben Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren in Frankfurt am Main mehr als 30.000 Wohnungssuchende gemeldet. Um die Wohnungsnot zu mildern, berief der liberale Bürgermeister Ludwig Landmann 1925 den Architekten und Stadtplaner Ernst May zum Siedlungsdezernenten der Stadt. May verfolgte das Ziel, die Wohnungsnot innerhalb von zehn Jahren und „unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse" zu beheben. Unter seiner Regie entstanden bis 1930 mehr als 15.000 Wohnungen für insgesamt 11% der Frankfurter Bevölkerung. Der Großteil davon wurde in Siedlungen am Stadtrand mit bis zu 1.500 Wohnungen erbaut. Die Möglichkeit zur Enteignung von Grund und Boden im Rahmen der Behebungsverordnung war dabei ein wichtiges Instrument in den Händen der Kommune, um die Kosten für die Baulandbeschaffung gering zu halten und den Siedlungsbau planvoll zu forcieren. Für die Errichtung der Siedlungen Praunheim und Römerstadt wurden im Nord-Westen der Stadt mehr als 32 Hektar Land per Enteignung in den Besitz der Kommune überführt. Vorausgegangen war die Weigerung der Grundbesitzer ihr Land zu einem angemessenen Preis zu verkaufen. Der Gerichtsbeschluss zur Enteignung des Baulandes setzte den Quadratmeterpreis von den geforderten 15 Mark auf 3,50 Mark pro Quadratmeter als Entschädigung herab. May schrieb 1930 in seiner Rückschau Fünf Jahre Wohnungsbau in Frankfurt: „Bei aller Härte, die jede Enteignung als Eingriff in das freie Eigentum nun einmal darstellt, kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass eine moderne Großstadt, die planmäßigen Städtebau betreiben will, ohne das Enteignungsrecht ebenso wenig zum Ziele kommen kann, als etwa die Eisenbahn- und Wasserbaubehörden ohne ein solches Zwangsmittel in der Lage gewesen wären, ihr Netz auszubauen."

Doch nicht allein die starken Eingriffe in das Grundeigentum machten die 1920er Jahre in der Weimarer Republik zu einem goldenen Jahrzehnt für die soziale Wohnungspolitik. Vielmehr war es das Zusammenspiel aus weitreichenden Eingriffen in das Grundeigentum mit der staatlichen Förderung und politischen Einbindung gemeinnütziger Wohnungsunternehmen. Kommunen und Gewerkschaften gründeten nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Regionen eigene Wohnungsbaugesellschaften, die in Gemeinden mit sozialdemokratischen Regierungsbeteiligungen beim Grunderwerb für den Wohnungs- und Siedlungsbau politisch unterstützt wurden. Das Reichssiedlungsgesetz von 1919 räumte gemeinnützigen Wohnungsunternehmen umfangreiche Vorkaufsrechte ein. Nachdem die Einnahmen der 1925 eingeführten Hauszinssteuer die staatlichen Fördertöpfe für den gemeinnützigen Wohnungsbau reichlich füllten, nahmen die Bauaktivitäten gemeinwirtschaftlicher und kommunaler Wohnungsbaugesellschaften stark zu. Von den 145.000 Wohnungen, die zwischen 1924 und 1931 in Berlin gebaut wurden, entstanden 95% mit öffentlichen Fördermitteln. Städtische und gewerkschaftliche Wohnungsbaugesellschaften übernahmen davon einen großen Anteil und errichteten mit der Hufeisensiedlung in Britz, der Friedrich-Ebert-Siedlung im Wedding oder der Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg Wohnbauten mit hoher baukultureller Qualität. Viele Neubauten der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften waren jedoch für einfache Arbeiter/innen nicht leistbar. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 sorgte schließlich für ein jähes Ende der progressiven Wohnungspolitik in Deutschland.

Junkerland in Bauernhand

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sahen die politischen Administrationen in West- wie Ost-Deutschland aufgrund der Kriegszerstörungen und Flüchtlingsbewegungen aus dem Osten einer noch gewaltigeren Wohnungsnot entgegen als nach dem Ersten Weltkrieg. Beim Wiederaufbau spielte der Wohnungsbau dementsprechend eine herausragende Rolle und auch die Bodenfrage geriet erneut ins Zentrum der politischen Diskussion. In der sowjetischen Besatzungszone vollzog die Militäradministration bereits 1945 eine Bodenreform und enteignete aktive Nazis, Kriegsverbrecher/innen, private Monopolorganisationen und Großgrundbesitzer/innen mit einem Besitz von mehr als 100 Hektar Land entschädigungslos. Mehr als drei Millionen Hektar Land wurden zunächst in einen öffentlichen Bodenfonds überführt und anschließend in Parzellen mit einer Größe von fünf bis zehn Hektar an Landarbeiter/innen, landlose Bauern und Umsiedler/innen reprivatisiert.

Die Verfassung der DDR von 1949 und das Aufbaugesetz von 1950 räumten dem Ministerium für Bauwesen ein gesellschaftliches Verfügungsrecht über den Boden ein. Seine Nutzung war dem Allgemeinwohl unterworfen. Privates Grundeigentum konnte in „Aufbaugebieten" zum Zwecke des Wohnungs- und Siedlungsbaus enteignet werden. Zwar waren laut Verfassung Entschädigungsleistungen für Enteignungen von Liegenschaften vorgeschrieben, sie wurden aber oftmals durch Gesetze und Verordnungen umgangen. Durch die Vergesellschaftung des Grundeigentums verlor der Markt seine bestimmende Funktion bei der Bodenverteilung. Günstiger Wohnungsbau war somit auch in Quartieren in der Stadtmitte möglich, die unter kapitalistischen Bedingungen zumeist hohe Bodenwerte aufweisen und damit luxuriösem Wohnungsbau und Gewerbeimmobilien vorbehalten sind. Die in der DDR errichteten Plattenbauten am Alexanderplatz sind insofern ein Ausdruck einer sozialistischen Stadt. Gleiches gilt für die zahlreichen Großsiedlungen am Rande von Ost-Berlin, die auf breite Bevölkerungsschichten zielten und in der Ärzte neben Krankenschwestern oder Hilfsarbeiter/innen neben Handwerksmeister/innen in einem Häuserkomplex wohnten. Ohne die Transformation des privaten Grundeigentums zum öffentlichen Gut wäre die planvolle Errichtung und gute verkehrliche Anbindung von Siedlungen wie Marzahn, Hohenschönhausen oder Friedrichsfelde Süd nicht möglich gewesen.

Bodenbeschaffungsgesetz als Schlüssel

Im Westen Deutschlands wurden nach Kriegsende ebenfalls Forderungen nach einer Sozialisierung des Grundeigentums laut. Der Gründer des Bauhaus Walter Gropius hielt „ein umfassendes Enteignungsrecht für nötig, um die Verewigung veralteter Stadtteile innerhalb der zerstörten Stadt zu vermeiden". Mit der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 und ihrer engen Anbindung an die marktwirtschaftlich verfassten Staaten des Westens waren Forderungen nach grundlegenden Veränderungen der Eigentumsverhältnisse jedoch politisch nicht mehr durchsetzbar. Das Grundgesetz garantiert das Privateigentum.

Dennoch war auch der Wiederaufbau in der Bundesrepublik von weitreichenden Eingriffen in das Grundeigentum geprägt. Nach über dreijähriger Vorbereitung und kontroverser Diskussion verabschiedete die von Konrad Adenauer (CDU) geführte Regierung 1953 das Baulandbeschaffungsgesetz, das umfangreiche Regelungen zur Enteignung von Grundstücken zum Zwecke des Wohnungsbaus gegen Entschädigungszahlungen vorsah. Unter Berufung auf Artikel 14 Abs. 3 Grundgesetz, der eine Enteignung von Boden zum Wohle der Allgemeinheit vorsieht, zielte das Gesetz auf die Unterstützung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus durch gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften. Die Enteignung von Grundstücken war nur für den Bau von Wohngebäuden mit Wohnungen mit einer Wohnfläche von maximal 120 Quadratmetern zulässig. Dieser Passus deckte sich mit den gesetzlichen Regelungen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen, die zum Bau von „Kleinwohnungen" verpflichtet waren. In Frage kam die Enteignung von Bauland allerdings nur, wenn die Verhandlungen für einen „freihändigen Erwerb von geeignetem Gelände" erfolglos blieben. Anwendung fand die Enteignungsmöglichkeit des Baulandbeschaffungsgesetz etwa bei der Errichtung des zur internationalen Bauausstellung 1957 wieder aufgebauten Hansaviertels. Für das 20 Hektar große Bauvorhaben erwarb die eigens für den Bau gegründete HansaAG insgesamt 138 Grundstücke auf dem weitestgehend kriegszerstörten Areal am Rande des Tiergartens, wobei 14 Enteignungsverfahren nach dem Baulandbeschaffungsgesetz eingeleitet wurden. Zwar verliefen die Recherchen zu einer übergreifenden Dokumentation der Anwendung des Baulandbeschaffungsgesetz für diesen Artikel ergebnislos. Laut dem vom Wohnungswirtschaftler Helmut Jenkins herausgegebenen „Kompendium der Wohnungswirtschaft" ist es jedoch mit Hilfe des Gesetzes „gelungen, in den 50er Jahren die schlimmste Wohnungsnot zu beseitigen. Allein die Möglichkeit der Enteignung für Wohnbauzwecke führte häufig dazu, daß Land doch freihändig verkauft wurde."

1960 wurde das Baulandbeschaffungsgesetz durch das Baugesetzbuch (BauGB) abgelöst. Das BauGB sieht mit der Enteignung als Einzelmaßnahme und im Rahmen der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme sowie dem Baugebot Möglichkeiten zur Enteignung von Boden vor. Laut einer aktuellen Studie der Raum- und Stadtplaner Michael Kolocek und Andreas Hengstermann kommen diese Instrumente aber aufgrund der hohen bürokratischen und verfahrensrechtlichen Hürden und dem stark begrenzten Anwendungsbereich nur sehr selten zur Anwendung und entfalten daher auch als Druckmittel kaum Wirkung.

Unterstützung bei Grunderwerb

Noch stärker als die Enteignung von Bauland spielten in den Nachkriegsjahrzehnten die politische Unterstützung gemeinnütziger und städtischer Wohnungsbaugesellschaften beim Grunderwerb und ihre Einbindung beim geförderten Wohnungsbau gewichtige Rollen bei der sozialen Wohnraumversorgung. In Westberlin nahm der geförderte Wohnungsbau eine herausragende Stellung ein. Von den ersten rund 100.000 Wohnungen, die zwischen 1949 und 1957 im Westteil der Stadt errichtet wurden, entstanden lediglich 5% frei finanziert. Zwischen 1960 und 1975 lag der Anteil der geförderten Wohnungen am gesamten Baugeschehen in Westberlin bei 78%. Die gesetzlichen Regelungen der Wohnbauförderung ermöglichten dem Senat eine politische Steuerung des Wohnungsbaus. Beim Neubau waren die Wohnungsunternehmen in Westberlin wirtschaftlich auf die Fördermittel angewiesen, ein Rechtsanspruch an Förderung bestand jedoch nicht. Die Politik nutzte diese Situation, um gemeinnützige und städtische Wohnungsunternehmen gezielt als Käufer zu erwerbender Baulandflächen einzusetzen und konkurrierende Erwerber abzuweisen. Deutlich wird die gezielte Förderung sozial ausgerichteter Träger allen voran beim Bau der Großsiedlungen Gropiusstadt und Märkisches Viertel. Für die Errichtung der Gropiusstadt unterstütze der Senat die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Gehag und Degewo beim Grunderwerb. Von dem zuvor größtenteils in privater Hand befindlichen Areal gelangte bis zum Abschluss der Planungen rund 60% in die Hand der beiden Unternehmen. 90% der 18.600 Wohnungen in der Gropiusstadt wurden mit öffentlichen Fördermitteln errichtet. Für den Grunderwerb im Planungsgebiet des Märkischen Viertels stockte der Senat das Grundkapital der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Gesobau von rund drei Millionen D-Mark im Jahr 1960 auf mehr als 15 Millionen im Jahr 1962 auf. Durch diese Maßnahme erlangte sie als Grundeigentümerin eine Quasi-Monopolstellung und errichtete in Kooperation mit der Degewo rund 98% der 17.000 Wohnungen im Märkischen Viertel mit öffentlichen Fördermitteln.

Realisierung der sozialen Stadt

Bereits während ihrer Planung gerieten die Großsiedlungen in West-Berlin in die Kritik. Linke Stadtteilinitiativen und Teile der neuen Bewohnerschaft monierten die im Vergleich zu den preisgebundenen Altbauten teuren Mieten im geförderten Wohnungsneubau und die unzureichende Versorgung mit sozialer Infrastruktur sowie die schlechte verkehrliche Anbindung des Märkischen Viertels. Diese Missstände machen die Grenzen des sozialen Wohnungsbaus und der Siedlungsplanung unter kapitalistischen Bedingungen deutlich. Auch die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften waren dem betriebswirtschaftlichen Prinzip der Kostendeckung unterworfen, und anders als im Osten waren die Großsiedlungen im Westen nicht für die breite Bevölkerung, sondern vor allem für die ärmeren Schichten gedacht. Im Osten wiederum steht die mancherorts bedrückende architektonische Monotonie der Plattenbauten der 80er Jahre für die materiellen und ökonomischen Begrenzungen, denen sich der reale Sozialismus gegenüber sah.

Nach dem Übergang in den Kapitalismus erlebten die Großsiedlungen im Osten Deutschlands eine starke kulturelle Abwertung.Viele Bewohner/innen zogen weg. Die verbliebene Bevölkerung setzt sich bis heute vielfach aus einkommensschwachen Schichten, darunter viele Rentner/innen, zusammen. Dabei waren die Siedlungen bis zur Wende gerade für junge Familien als Wohnort sehr beliebt. Schließlich bedeuteten sie eine wesentliche Verbesserung der Wohnqualität gegenüber den kaum instandgehaltenen Altbauten in den Innenstädten und legten bei ihrer Gestaltung großen Wert auf Kinderfreundlichkeit. Die Idee des komplexen Wohnungsbaus, der eine umfängliche Versorgung mit sozialer Infrastruktur und Konsummöglichkeiten für den alltäglichen Bedarf in direkter Umgebung der Wohnung vorsieht, war unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht aufrecht zuerhalten.

Dennoch verdienen die sozialen Errungenschaften des modernen Siedlungsbaus eine Würdigung als Weg zur Realisierung der sozialen Stadt. Die großen Wohnsiedlungen in West wie in Ost lösten „erstmals das seit langem geforderte Recht auf eine Wohnung für jedermann ein" und setzten „einen höheren Wohn- und Lebensstandard für die breite Bevölkerung durch", wie der Architektur- und Stadtbauhistoriker Jascha Philipp Braun in seiner Schrift zum Großsiedlungsbau im geteilten Berlin schreibt. Die scharfen Eingriffe in das Grundeigentum und die aktive Bodenpolitik der Kommunen trugen entscheidend zur sozialen Ausrichtung und planvollen Gestaltung der Siedlungen bei. Erst sie ermöglichten einen für breite Schichten der Bevölkerung leistbaren Neubau. Die historischen Erfahrungen bieten insofern wichtige Impulse für den heute notwendigen Weiterbau der Stadt.

Der Berliner Senat verfügt derzeit laut Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 gerade einmal über 25% der Liegenschaften in den 16 Stadtentwicklungsgebieten. Lediglich die Hälfte der Gesamtfläche will er „gemeinwohlorientiert" bebauen. Das entspricht angesichts des akuten Wohnungsmangels im niedrigen und mittleren Preissegment jedoch kaum den sozialen Bedarfen. Die massiv gestiegenen Bodenwerte als Folge der Deregulierung und Finanzialisierung des Bodenmarktes und des jahrelang praktizierten Ausverkaufs der öffentlichen Liegenschaften sind zu einer Schranke für die soziale Wohnraumversorgung geworden. Diese Situation bedarf dringend einer grundsätzlichen Korrektur. Ein Rückblick auf den breiten Instrumentenkasten der sozialen Wohnungspolitik könnte helfen, den Korridor des politisch Möglichen um das Instrument der Enteignung von Grundeigentum zum Wohle der Allgemeinheit zu erweitern.

MieterEcho 414 / Februar 2021

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