Philipp Mattheis

Journalist/Bestseller-Autor, München

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Türkei-Referendum: Das denkbar schlechteste Ergebnis

Für die Türkei ist es das denkbar schlechteste Ergebnis. Mit 51,8 Prozent der Stimmen hat das Ja-Lager um Präsident Recep Tayyip Erdogan die Abstimmung gewonnen. Ministerpräsident Binali Yildirim, dessen Amt es bald nicht mehr geben wird, erklärte um 21.30 Uhr Istanbuler Zeit den Sieg - noch bevor alle Stimmen ausgezählt waren.

Die beiden größten Oppositionsparteien, die CHP und die pro-kurdische HDP kündigten unterdessen an, das Ergebnis anzufechten. Unwahrscheinlich ist, dass sie damit Erfolg haben werden. Sicher aber ist: Die Spaltung des Landes in zwei sich gegenüber stehende Lager ist noch tiefer geworden.

Der für die Türkei historische Tag hat ruhig begonnen. Die Wahllokale in Istanbul öffneten um acht Uhr morgens in den Schulen der Stadt. Es kam hier weder zu Protesten noch zu Unruhen. Erst in der Nacht begannen die Anhänger Erdoğans auf die Straße zu gehen, und den Sieg des Evet-Lagers zu feiern.

Was bedeutet der Ausgang des Referendums für die EU und die Nato? Die Mehrheit der Türken hat zugestimmt, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht bekommt. Muss die EU die Beitrittsverhandlungen mit dem Land nun endgültig abbrechen?

Nein, nicht automatisch. Denkbar ist zwar, dass das EU-Parlament mit einer Resolution den Abbruch der Gespräche fordert. Die zuständigen Regierungen der EU-Staaten müssen Forderungen des EU-Parlaments im Bereich der Außenpolitik allerdings nicht nachkommen.

Wäre der Abbruch der Beitrittsverhandlungen eine echte Option?

Wenn sich alle 28 Mitgliedstaaten einig wären, wäre ein Abbruch möglich. Die EU-Kommission und auch die Bundesregierung waren bis zuletzt aber der Meinung, dass ein kompletter Wegfall der EU-Beitrittsperspektive dazu führen könnte, dass sich die Türkei noch stärker Russland zuwendet und keinerlei Bestrebungen mehr zeigt, sich bei Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an europäische Standards zu halten. Derzeit gibt es deswegen für die Beitrittsverhandlungen nur eine einziges K.o.-Kriterium: die von Erdogan erwogene Wiedereinführung der Todesstrafe.

Alternative zum vollständigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre es, die Gespräche offiziell auszusetzen. Dafür bräuchte es keine Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten. Es würde ausreichen, wenn 16 der insgesamt 28 Länder zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der Union vertreten.

Spielen bei den Überlegungen der EU auch die Vereinbarungen zur Flüchtlingskrise eine Rolle?

Zumindest am Rande. Die Türkei ist immer noch einer der wichtigsten Partner in dem Bereich - auch wenn nach Meinung vieler Experten vor allem die Grenzschließungen auf der Balkanroute zu dem Ende des großen Flüchtlingszustroms in Richtung Westeuropa geführt hat. Die Türkei beherbergt derzeit rund drei Millionen Menschen aus Ländern wie Syrien oder dem Irak.

Abgesehen vom Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen: Welche anderen Reaktionen der EU sind auf den Ausgang des Referendums denkbar?

Die EU könnte die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei weiter zurückfahren oder verstärkt für Programme zur Verfügung zu stellen, die die Zivilgesellschaft und die Demokratie-Entwicklung stärken. Dabei geht es um rund 4,45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020.

Ist es auch denkbar, dass sich das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei nach dem Referendum wieder etwas normalisiert?

In Brüssel wird das nicht für unmöglich gehalten. Die wüsten Beschimpfungen Erdogans gegen EU-Staaten könnten als unschönes Wahlkampfgepolter abgehakt werden. Wirklich bessere Beziehungen sind aber nur dann möglich, wenn die Türkei wieder anders mit Oppositionspolitikern und Journalisten umgeht. Das Vorgehen in den vergangenen Monaten wird als absolut inakzeptabel erachtet.

Gibt es Hinweise auf eine mögliche Entspannung?

Die letzten Äußerungen waren widersprüchlich. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kündigte Ende der vergangenen Woche an, er wolle nach dem Referendum einen Vorschlag vorlegen, um die festgefahrenen Verhandlungen über die Visa-Liberalisierungen zu beleben. In der EU wird mit Spannung erwartet, ob dies bedeutet, dass die Türkei doch bereit ist, über eine Reform ihrer umstrittenen Anti-Terrorgesetze nachzudenken, die nach Meinung von EU-Juristen zur Verfolgung politischer Gegner missbraucht werden können. Die EU hat eine Änderung der Anti-Terrorgesetze zu einer Bedingung für die Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger gemacht.

Auf der anderen Seite sagte Präsident Erdogan, er wolle die künftigen Beziehungen der Türkei zu Europa nach dem Referendum überprüfen lassen. Unklar ist, ob er damit eine Volksabstimmung nach britischem Vorbild meint, bei der die Bürger der Türkei über eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit der EU abstimmen könnten.

Was bedeutet der Ausgang des Referendums für die Nato?

Für die Verteidigungsallianz ist es enorm wichtig, dass die Türkei ein verlässlicher Bündnispartner bleibt. Das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost hat von den Mitgliedstaaten die zweitgrößte Armee, von Incirlik aus fliegen Alliierte Angriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), und im Südosten des Landes steht ein wichtiges Nato-Raketenabwehrradar. Wenn das „Ja" beim Referendum zu mehr politischer Stabilität führt, kann das der Nato nutzen - aber nur dann, wenn es nicht zu einer dauerhaften Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien kommt. Die jüngsten Entwicklungen wurden mit großer Sorge gesehen. Für Nato-Partner stellt sich die Frage, ob eine Demokratie à la Erdogan auf Dauer stabil sein kann.

Vielen aber dürfte der Schock, den das Ergebnis bedeutet, erst langsam bewusst werden. "Ich habe Angst um die Zukunft meiner Firma", sagt Leila Ata, eine Unternehmerin, die in Istanbul eine Personalagentur betreibt. Zu ihren Kunden gehören viele ausländische Unternehmen. Mit echtem Namen möchte sie nicht genannt werden. Sie hat mit Nein gestimmt. "Das Land droht in die Diktatur abzurutschen. Für die wirtschaftliche Entwicklung ist das nicht gut."

Auf Twitter sprachen noch in der Nacht viele davon, dass Atatürks Republik heute Nacht zu Grabe getragen wurde.

Gemäß der neuen Verfassung erhält der türkische Präsident einen kaum vergleichbaren Machtzuwachs. Das Amt des Ministerpräsidenten gibt es dann nicht mehr. Auch die ohnehin faktisch nicht mehr gegebene parteipolitische Neutralität des Präsidenten wird aufgehoben. Er ernennt die Kabinettsmitglieder. Der Präsident kann für maximal zwei Wahlperioden zu je fünf Jahren im Amt bleiben.

Philipp Mattheis und Ozan Demircan, Türkei-Korrespondenten von WirtschaftsWoche und Handelsblatt, sprechen kurz nach Schließung der Wahllokale über das Referendum.

Befürworter der Verfassungsänderung vergleichen diese oft mit dem französischen und amerikanischen Präsidialsystem. Faktisch aber wird die Türkei eher dem Russland Putins gleichen. Denn im Gegensatz zum amerikanischen Kongress oder der französischen Nationalversammlung hat das Parlament kaum Befugnisse. Es hat keine Kontrolle über die Staatsausgaben und kann Anfragen an das Kabinett nur schriftlich stellen.

Denkwürdig ist auch der Einfluss des Präsidenten auf die Gerichtsbarkeit: Gemäß der neuen Verfassung kann der Präsident sechs der 13 Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte selbst bestimmen. Sieben weitere ernennt das Parlament, auf dessen Zusammensetzung er aber wiederum großen Einfluss hat. De facto verschwimmen die Grenzen zwischen Legislative, Judikative und Exekutive.

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