Die Noten von Studierenden werden immer besser. Werden ihnen gute
Zensuren hinterhergeworfen – oder bringen sie mehr Leistung? Der
Bildungsforscher Thomas Gaens über die Schwierigkeiten einer Bewertung.
Studierende von heute bekommen Noten und Abschlüsse quasi hinterhergeworfen, behaupten viele. Stimmt das?
Thomas Gaens: Das muss man etwas differenzierter sehen. Es gibt tatsächlich eine Noteninflation. Die hat aber schon in den 1960er Jahren angefangen - also lange bevor das durch den ersten Bericht des Wissenschaftsrates 2003 überhaupt ein Thema wurde. Außerdem werden die Noten nicht in allen Studiengängen, die ich untersucht habe, besser. In Jura und in den Magisterstudiengängen Germanistik und Soziologie verlaufen sie zyklisch um einen recht konstanten Mittelwert.
Eine Noteninflation bedeutet gleichzeitig Verbesserung und Entwertung der Noten. Aber natürlich kann eine Verbesserung auch leistungskonform erfolgen. Es gibt an einigen Hochschulen einen langfristigen positiven Zusammenhang zwischen den Prüfungszahlen und den Noten. Das heißt, wenn die Prüfungszahlen steigen, werden die Noten schlechter und umgekehrt, was vermutlich auf die sich verändernden Lehrbedingungen zurückzuführen ist. Es gibt dabei jedoch eine Art unterschiedliche Elastizität: In Phasen der Verbesserung werden die Noten deutlich besser als sie sich in Phasen der Verschlechterung verschlechtern. Im Zeitverlauf entsteht so letztlich eine Verbesserung der Noten.
Mit den vorliegenden Daten können wir das nicht sagen. Das wäre natürlich der Goldstandard, wenn wir schauen könnten, welche Leistungen Studierende vor 50 Jahren erbringen mussten und welche sie heute erbringen müssen, um eine bestimmte Note zu bekommen. Das müsste man natürlich wieder in den Zeitkontext des Studienfachs setzen: In Chemie hätten Studierende für die Leistung, die sie heute erbringen, eine wesentlich bessere Note bekommen, weil man heute in der Wissenschaft viel weiter ist. Aber man kann nicht genau sagen, ob sich die Leistung verbessert hat oder nicht.
Es gibt durchaus kurzfristige Einflüsse, die leistungskonform sind. Das lässt sich zum Beispiel zeigen, wenn ein Numerus Clausus eingeführt wird. Fünf Jahre später, also ungefähr nach einer Studiendauer, werden die Noten im Trend besser. Es gibt also durchaus Hinweise darauf, dass Leistung eine Rolle spielt. Das Problem ist, dass wir mit der Datengrundlage nicht rekonstruieren können, ob es sich um einen dauerhaft wirksamen systematischen Einfluss handelt.
Genau. Das Problem ist: Inflation heißt Entwertung. Und da hat die Schwierigkeit in der deutschen Diskussion angefangen. Der Wissenschaftsbericht 2003 sagte nur, dass überwiegend gute Noten an Hochschulen vergeben werden - aber von Ursachen wurde darin nicht gesprochen. Die mediale Rezeption war allerdings eindeutig. Es wurde direkt von Inflation und Kuschelnoten gesprochen. Sofort nahm man an, dass Studierende für weniger Leistung zu gute Noten bekommen.
Richtig. Trotzdem wurde wild spekuliert.
Was bei der Diskussion um Noteninflation selten berücksichtigt wird, ist, dass es auch eine langfristige Ursache braucht, um diese langfristige Verbesserung zu erklären. Oft werden Kurzzeit-Argumente herangezogen, etwa, dass durch die Bologna-Einführung eine Art teaching to the test zugenommen habe und das Studium und die Prüfungen verschult worden seien. Allerdings setzte die Verbesserung schon lange vor der Reform ein.
Was kann denn dann eine langfristige Ursache sein?
Als leistungskonforme Ursachen kommen theoretisch Verbesserungen in der Eingangseignung, in der Lehrqualität oder sich verändernde Zusammensetzungen der Studierenden in Frage. Auch dass Studierende eher Prüfungen bei Lehrenden ablegen, die vergleichsweise gut bewerten, wäre eine Erklärung für eine kontinuierliche Verbesserung des Notenniveaus, ohne dass sich das Verhältnis der individuell erbrachten Leistung zur erhaltenen Note verändert. Eine Entwertung von Noten hingegen ließe sich beispielsweise durch ein zunehmend milderes Selektionsklima erklären, das sich als Reaktion auf eine zunehmende Prüfungsbelastung, auf sich verändernde Arbeitsmarktlagen oder als Ausgleich für zunehmend schlechter werdende Rahmenbedingungen für Lehre entwickelt. Auch eine strategische Nutzung von Noten als Steuerungsinstrument, quasi als Nachweis für eine gute Ausbildungsleistung, ist denkbar, in Deutschland jedoch unwahrscheinlich. Mit den Daten, die sich retrospektiv erheben lassen, können diese Erklärungsansätze jedoch nur bedingt überprüft werden.
Empirisch zeigt sich in den Analysen ein Zusammenhang mit der Entwicklung der Prüfungszahlen. Neben dem bereits beschriebenen positiven Zusammenhang, der sich an einzelnen Standorten in den Magisterstudiengängen Germanistik und Soziologie zeigt und der vermutlich auf die Lehrbedingungen zurückführen ist, zeigt sich in den meisten Studiengängen mit einheitlicher Studierendenkonjunktur wie beim Lehramt ein langfristiger negativer Zusammenhang mit den um eine Studiendauer verschobenen Prüfungszahlen. Es liegt hier ein Einfluss der Arbeitsmarktsituation im Fach nahe: steigende Erstsemesterzahlen als Folge eines Mangels auf dem Arbeitsmarkt führen zu besser werdenden Noten und umgekehrt. Offensichtlich bewerten die Lehrenden während schlechter Arbeitsmarktlagen strenger, bei hohem Bedarf milder. Das dürfte eher unbewusst ablaufen, hat aber dennoch einen Einfluss auf das Selektionsklima. So entstehen ebenfalls zyklische Bewegungen der Notenverläufe, die wiederum der skizzierten unterschiedlichen Elastizität unterliegen.
Wo liegt das Problem, wenn das Notenniveau steigt?
Das Problem ist erstens, dass wir nicht wissen, wann und wo leistungskonforme und wann und wo leistungsexterne Ursachen wirken. Zudem ist es so, dass mit sinkendem Notenniveau auch eine sinkende Varianz einhergeht. In Biologie und Psychologie zeigt sich das sehr deutlich. Wenn das Notenniveau im Durchschnitt bei 1 Komma angekommen ist, kann sich der Notendurschnitt nicht mehr aus einer großen Skala zusammensetzen. Die besten Studierenden unterscheiden sich kaum von den schlechtesten. Es zeigt sich, dass generell mit einer Verbesserung der Noten die Streuung abnimmt. Man würde unterstellen, dass alle Studierenden die Bestleistung erbringen. Dann wäre die Frage, ob das Studium noch richtig konzipiert ist.
Auch für den Arbeitsmarkt ist das doch sicher problematisch.
Darauf wollte ich hinaus. Eigentlich müssten Arbeitgeber anhand der Note sehen können, ob Studierende mit ihrer Note herausstechen oder dem Durchschnitt angehören. Es wäre einfacher, wenn sich Unternehmen darauf verlassen könnten.
Das heißt doch gleichzeitig, dass andere Faktoren bei der Vergabe von Arbeitsplätzen herangezogen werden.
Genau, wenn man nicht mehr differenzieren kann, wer welche Leistung investiert hat, ziehen Unternehmen andere Merkmale heran. Das können zum Beispiel herkunftsabhängige Merkmale sein wie das teure Auslandssemester, was sich eher Kinder aus sozial besseren Schichten leisten können. Und vermutlich werden auch leistungsunabhängige Merkmale, wie etwa das Geschlecht, herangezogen. Den Unternehmen kann es letztlich egal sein, aber für eine Leistungsgesellschaft ist eine Leistungsdifferenzierung notwendig.
In welchen Studiengängen fällt der Trend zu besseren Noten besonders auf?
Es gibt Studiengänge, in denen sich die Noten langfristig verbessern und es gibt welche, in denen sie sich nicht langfristig verbessern. In Biologie und Psychologie haben sich die Noten schon seit den 1970er Jahren kaum mehr verbessert – einfach weil sie da schon bei einem Notendurchschnitt von 1,5 angekommen waren. Da gibt es das konstant beste Notenniveau seit 40 Jahren. In BWL und VWL hingegen ist es so, dass eine Verbesserung seit Mitte der 1960er Jahre auszumachen ist. Die Noten sind dort aber immer noch schlechter als sie zum Beispiel in Biologie im Diplom jemals waren.
Gibt es auch einen Negativtrend?
Das gibt es in den von mir untersuchten Studiengängen tatsächlich nicht. Aber es gibt, wie bereits erwähnt, Studiengänge, in denen sich die Noten in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert haben.
Man hört davon, dass an einigen Universitäten schneller gute Noten vergeben werden als an anderen. Ist Noteninflation auch hochschulspezifisch?
Ja, an verschiedenen Standorten gibt es im selben Studiengang durchaus Unterschiede. Es bekommen Studierende an manchen Unis häufiger gute Noten als vor ein paar Jahrzehnten, allerdings nicht überall.
Gibt es noch andere Gründe für die unterschiedliche Benotung an Unis, zum Beispiel sozioökonomische?
Darüber kann man eigentlich nur spekulieren. Es gibt einige Erklärungsansätze, die aber nicht mit Daten unterfüttert sind. Da ist noch jede Menge Forschung nötig.
Für Studierende erscheint es ja oft als halber Weltuntergang, wenn keine 2 vor dem Komma steht.
Ja, Studierende haben inzwischen tatsächlich oft eine andere Anspruchshaltung, das ist zumindest mein subjektiver Eindruck. Man sieht ja auch bei den Abiturnoten, dass sie immer besser werden. Dann herrscht plötzlich Verwunderung, wenn an der Uni schlechtere Noten erbracht werden.
Wie könnte man das Problem denn lösen?
Man müsste Anschlussforschung in Form von Längsschnittstudien betreiben. Man müsste schauen, was leistungsexterne Einflüsse im Bachelor und im Master sind – mein Fokus lag aufgrund des Längsschnittdesigns auf den alten Studienabschlüssen. Die Datengrundlage dafür existiert ja bereits in elektronischen Prüfungsverwaltungssystemen. Aber auch ein regelmäßiges Monitoring an den Hochschulen, die Noten in einer institutionalisierten Art und Weise zu reflektieren, könnte Einflüsse aufdecken. Soweit es möglich ist, sollte man leistungsexterne Faktoren minimieren. Ein ganz simples Beispiel sind formale Prüfungsbedingungen.
Aber das ist teilweise ja nicht so einfach. Trotz standardisiertem Bewertungshorizont existierten zum Teil erhebliche Schwankungen in der Notengebung.
Man muss
akzeptieren, dass Notengebung ein verzerrtes Abbild von Leistung ist. Es
kann im Hochschulsystem keine komplette Vergleichbarkeit geben. Das ist
eine Illusion und entsprechend sollte man bei der Interpretation
ansetzen. Noten sollten in relationale Modelle eingebettet werden. Auf
den Zeugnissen sollten also Vergleichswerte zu anderen Studierenden des
Studiengangs angegeben werden. Was keine Besserung bringen wird, ist,
das Notenniveau einfach von Zeit zu Zeit anzuheben, wie es bei der
Einführung von Bachelor und Master zum Teil getan wurde. Das bleibt nur
Kosmetik, wenn man nicht die dahinter liegenden Ursachen in Angriff
nimmt.
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