Philipp Fritz

Journalist, Warschau, Berlin

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Ukraine: Ohne Selenski geht gar nichts - ohne Russland auch nicht

Die Partei von Wladimir Selenski hat die Wahl wohl mit absoluter Mehrheit gewonnen - die hatte kein ukrainischer Präsident seit dem Ende des Kommunismus. Aber der lange Arm Moskaus reicht bis ins Parlament.

Die Freude steht ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Mitglieder der Partei Diener des Volkes richten in ihrer Kiewer Zentrale Handykameras auf die Leinwand, einige klatschen, als die ersten Prognosen nach der Schließung der Wahllokale am Sonntagabend hereinkommen: 44,4 Prozent der Stimmen hat bei den ukrainischen Parlamentswahlen demnach die Partei von Wladimir Selenski bekommen, die gerade erst aus dem Nichts aufgebaut wurde. Am Montag steht Diener des Volkes bei 42,2 Prozent. Das Ergebnis schwankt also noch etwas.

Aber nicht nur auf der Wahlliste liegt Selenskis Partei deutlich vorn, auch konnte sie die meisten Direktmandate holen, in Kiew hat sie gar alle 13 gewonnen. Etwas mehr als die Hälfte der 450 Sitze im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, wird über Listen vergeben, der Rest über Direktmandate bestimmt. Hunderte der bisherigen Abgeordneten werden ihr Mandat verlieren und größtenteils durch Politneulinge ersetzt.

Gerade das Parlament gilt vielen Ukrainern als korrupt, es ist ein offenes Geheimnis, dass verschiedene Oligarchen über die Abgeordneten regelmäßig Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Damit soll nun Schluss sein.

Das erste Mal seit dem Systemwechsel 1991 haben die Ukrainer ihrer Führung ein so deutliches Ergebnis beschert, erstmals seit Ende des Kommunismus werden wohl ein ukrainischer Präsident und seine Partei mit absoluter Mehrheit regieren. Das ist ein unglaublicher Erfolg für den ehemaligen Fernsehkomiker, der selbst erst im Juni mit mehr als 70 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde.

Es war eine Revolution an den Wahlurnen, ein ganzes System wurde von den Ukrainern abgestraft. Trotz dieser komfortablen Mehrheit aber werden Selenski und seine Mannschaft nicht einfach durchregieren können. Die Ukraine steht vor enormen Problemen - und deren Lösung führt über den großen Nachbarn Russland.

Der nämlich führt über moskautreue Milizen einen Stellvertreterkrieg auf ukrainischem Territorium und hat völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektiert. Selenski und seine Partei werden das Verhältnis zu Russland neu definieren und damit den Weg festlegen müssen, von dem auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Landes abhängt. Konkret ist der ukrainische Präsident in dieser Sache noch nicht geworden.

Aber in seinem Ton distanziert er sich bereits klar von seinem Vorgänger Petro Poroschenko, der stets hart und unversöhnlich gegenüber dem Kreml auftrat. Nicht so wie Selenski, der, gerade weil er so vage blieb, Hoffnungen auf einen baldigen Frieden wecken konnte. Das und die Beseitigung der lähmenden Korruption waren seine beiden großen Wahlkampfthemen, kurzum: ein Neuanfang für die Ukraine.

Moskau dürfte erleichtert sein

In Russland dürfte man froh sein, dass Poroschenko derart schlecht abgeschnitten hat. Seine Partei, die er eilig noch in Europäische Solidarität umbenannt hat, um ihr einen unverbrauchten Anstrich zu verleihen, kam lediglich auf 8,7 Prozent der Stimmen. Die Partei des ehemaligen Premierministers Wladimir Groisman scheiterte gar an der Fünf-Prozent-Hürde.

In Moskau hätte man am liebsten die prorussische Oppositionsplattform von Juri Boiko vorn gesehen. Sie kam zweitplatziert auf 12,8 Prozent. Erst im März, also kurz vor der Präsidentschaftswahl in der Ukraine, reiste Boiko zusammen mit dem Oligarchen Viktor Medwedtschuk nach Moskau, wo beide medienwirksam Premierminister Dimitri Medwedjew trafen - es ist eine durchaus ungewöhnliche Wahlkampfgeste, die gegnerische Kriegspartei zu besuchen. Geschadet hat es der „Oppositionsplattform" offenbar nicht.

Moskaus Favorit stellt nun also die größte Oppositionsfraktion in der Rada. „Sie ist jetzt eine echte politische Kraft, mit der man rechnen muss", kommentierte zufrieden der russische Außenpolitiker Leonid Kalaschnikow den Einzug von Boikos Partei ins Parlament. Erste Reaktionen aus Russland mit Blick auf Selenski fallen entsprechend verhalten aus, wenn auch nicht feindselig.

So schrieb der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im russischen Oberhaus, Konstantin Kossatschow, auf Facebook: „Selenski muss noch politische Reife zeigen." Und weiter: „Jetzt kommt die Zeit der echten Verantwortung." Das ist insoweit richtig, als dass Selenski bisher kaum regieren konnte, da er über keinen Rückhalt in der Rada verfügte.

Nun aber, wo er die Mehrheit der Sitze gewonnen hat, kündigte der zukünftige Fraktionschef von Diener des Volkes, Dmitro Razumkow, bereits an, die Immunität für die Abgeordneten aufzuheben und die Rada mit weiteren Mitteln zu disziplinieren. Szenen aus der Vergangenheit von sich prügelnden Parlamentariern sollen wohl vermieden werden.

Selenski muss bald Ergebnisse liefern - vor allem in Sachen Korruptionsbekämpfung. Das erwarten die Ukrainer, die seiner Partei jene Machtfülle beschert haben. An Diener des Volkes kommt nun niemand vorbei. Im Ungefähren, so wie bisher, wird Selenski also nicht bleiben können. Zu einer verfassungsändernden Mehrheit fehlen ihm jedoch Sitze.

Wenn er sein Land wirklich umkrempeln will, wird er also Bündnisse eingehen müssen. Er hat angekündigt, nicht auf Poroschenko zuzugehen. Eine Zusammenarbeit kommt für ihn mit der ebenfalls neuen Partei Stimme des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk infrage. Der kam auf 6,4 Prozent. Nie wurde das demokratische Parteiensystem in der Ukraine so durcheinandergewirbelt. In Kiew ist alles neu.

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