Philipp Fritz

Journalist, Warschau, Berlin

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Ukraine: Warum dieses Wahlergebnis für Europa gefährlich werden kann

Der überwältigende Sieg der Protestpartei „Diener des Volkes" bei den ukrainischen Parlamentswahlen ist bedeutend für den gesamten Kontinent. Denn sollte sich Selenski nun auf einen Kompromiss mit dem Kreml einlassen, dürfte das weitreichende Konsequenzen haben.

Seit der Wende 1991 hatte noch kein Präsident und keine Partei in der Ukraine ein solches Mandat bekommen wie Wolodimir Selenski und seine gerade erst aus dem Boden gestampfte Partei Sluha Narodu, zu Deutsch: „Diener des Volkes". Nach Auswertung von rund 30 Prozent der Stimmzettel lag die Partei Selenskyjs am Montagmorgen bei knapp 42 Prozent. Damit blieb die Partei zwei Punkte unter den am Sonntagabend prognostizierten 44 Prozent der Stimmen.

Zweitstärkste Kraft wurde demnach die prorussische Oppositionsplattform mit knapp 13 Prozent der Stimmen. Parteichef Juri Boiko sagte, dass die Abstimmung die krisengeschüttelte Ukraine wieder auf einen friedlichen und normalen Weg zurückbringe. An dritter Stelle landete die Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Petro Poroschenko mit rund acht Prozent.

Der ehemalige Fernsehkomiker und Politikneuling Selenski wurde erst im Juni im zweiten Wahlgang mit mehr als 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt - hatte jedoch bislang keine Basis im Parlament. Das ist nun anders.

In der Ukraine zeigen sich deutlich zwei Trends, die auch in anderen Ländern Europas zu sehen sind. Zum einen mischen zunehmend Parteien die Politik auf, die aus Bewegungen hervorgegangen sind, häufig unter Führung von Quereinsteigern. Das war zuletzt in der Slowakei zu sehen, wo die ehemalige Antikorruptionsaktivistin Zuzana Caputova im Juni das Präsidentenamt übernommen hat.

Die Ukrainer wollen einen Neuanfang

Der zweite europäische Trend, für den auch „Diener des Volkes" steht, ist die Rhetorik gegen „die Eliten". In der Ukraine scheint allerdings der Überdruss mit dem politischen System so stark verbreitet zu sein wie in kaum einem anderen Land auf dem Kontinent. So stark, dass andere Parteien versucht haben, Diener des Volkes zu kopieren. Die Politik hat also verstanden, dass die Ukrainer einen Neuanfang wollen. Die Mehrheit allerdings hat nicht die Nachahmer gewählt, sondern das Original: Selenskis Protestpartei.

Im Gegensatz zu vielen populistischen Parteien in Europa setzen Selenski und seine Partei „Diener des Volkes" dabei nicht auf eine bestimmte Klientel und fördern damit eine Spaltung der Gesellschaft. Im Gegenteil, sie sprechen vielmehr ganz unterschiedliche Gruppen an. Aber gerade das könnte eine Gefahr nicht nur für die Ukraine, sondern für Europa bedeuten.

Denn auch wenn Selenskis Anhänger in der Regel pro-europäisch eingestellt sind, haben eben auch viele Wähler von „Diener des Volkes" für einen Wechsel gestimmt, die sich eine Wiederannäherung an Russland wünschen. Viele Ukrainer sind zudem des Krieges im Osten des Landes überdrüssig. Auf sie wird der Präsident vermutlich mit seinerPolitik reagieren. Sollte er dabei die konsequente Haltung seines Vorgängers Petro Poroschenko aufgeben und sich auf einen Kompromiss mit dem Kreml einlassen, dann ist das auch ein gesamteuropäisches Problem.

Das wäre ein klares Zeichen, dass das Verschieben von Grenzen in Europa zu Erfolg führt. Wladimir Putin dürfte sich ermutigt fühlen, weiter an der Eskalationsspirale zu drehen. Dass Russland Krieg in der Ukraine führt, bringt „Diener des Volkes" in eine Position, in der keine andere Protestpartei in Europa ist - und sie macht dieses Wahlergebnis so wichtig für alle Europäer.

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