Philipp Fritz

Journalist, Warschau, Berlin

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Was sich Osteuropas Hardliner von von der Leyen erhoffen

Ungarn und Polen sind enge Partner in der EU. Hier sind die Premierminister Viktor Orban und Mateusz Morawiecki zu sehen.

Die Stimmen der rechtskonservativen Regierungen in Ungarn und Polen haben von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission gebracht - obwohl sie in ihrer Rede harte Töne gegen Osteuropa angeschlagen hatte. Was steckt hinter der Entscheidung?

Von Philipp Fritz und Boris Kalnoky

Es war ein herrlicher Tag in Warschau. Die Menschen genossen die Sonne am Ufer der Weichsel oder strömten in die Parks. Zur gleichen Zeit fand in der polnischen Hauptstadt ein Treffen statt, das sehr wahrscheinlich sehr entscheidend war für die Zukunft Europas.

Nur 48 Stunden vor der Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionschefin traf sich ein Emissär mit Polens mächtigstem Mann. Der Generalsekretär der CDU, Paul Ziemiak, sprach mit Jaroslaw Kaczynski, dem Mann, ohne den in der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) keine relevante Entscheidung gefällt wird.

Zwei Tage später, am Dienstagabend, war klar: Die EU-Abgeordneten der PiS, die im Europaparlament rechts von der EVP-Fraktion von der Leyens sitzen, hatten für sie gestimmt. Die Abstimmung war zwar geheim.

Aber Polens Premierminister Mateusz Morawiecki trat noch am Abend in seiner Kanzlei im Zentrum von Warschau vor die Kameras und sagte an seine 26 Parteigenossen in Brüssel gerichtet: „Ich möchte allen polnischen Abgeordneten danken, die für Frau von der Leyen gestimmt haben, besonders den Abgeordneten der PiS, die das Zünglein an der Waage waren." Und die Sprecherin der PiS im EU-Parlament, Beata Mazurek, sagte: „Ohne die Unterstützung der Europaabgeordneten der PiS wäre die Wahl von der Leyens nicht möglich gewesen."

Neun Stimmen, von der Leyens Mehrheit war hauchdünn. Und in den Stunden nach der Wahl wurde klar: Ohne die 26 Polen und die 13 Ungarn der Fidesz-Partei von Premierminister Viktor Orban hätte es die deutsche Kandidatin nicht geschafft. Von der Leyen hatte sich in ihrer Bewerbungsrede inhaltlich weit nach links gelehnt, um die vielen skeptischen Abgeordneten von Sozialdemokraten und Grünen für sich zu gewinnen.

Welche Erwartungen hat der Osten?

Die rechtskonservativen Osteuropäer stieß sie in mehreren Punkten offensiv vor den Kopf. Am Ende aber waren es dann eben die beiden mächtigen Länder im Osten, die von der Leyens Wahl retteten. Die große Frage ist nun: Warum taten sie das? Was erhoffen sie sich von der EU-Kommissionschefin - und sind diese Hoffnungen wirklich realistisch?

Ungarn und vor allem Polen sind im Dauerkonflikt mit der EU. Der Umbau der Justizsysteme wird in Brüssel als Angriff auf die Gewaltenteilung und die liberale Demokratie gesehen - und damit auf Grundwerte, in deren Geist die Gemeinschaft einst gegründet wurde. Erst im Juni erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) Teile der polnischen Justizreform als rechtswidrig.

Das oberste Ziel der osteuropäischen EU-Staaten: Ein EU-Kommissionschef, der Milde zeigt beim Thema Rechtsstaat. Im dramatischen Poker um das künftige EU-Personal setzte die Visegrad-Gruppe - Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien - all ihr politisches Gewicht ein, um sozialdemokratischen Kandidaten Frans Timmermans zu Fall zu bringen, der in den vergangenen Jahren ein besonders lauter und engagierter Kritiker der Justizreformen in Polen und Ungarn war.

Ungarns Premier Orbán streute die Behauptung, er sei es gewesen, der den Namen von der Leyens als EVP-Kandidatin als erster ins Spiel gebracht habe - mit dem Ziel, Timmermans den Weg zu versperren.

Was von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede vor dem EU-Parlament sagte, konnte den Mächtigen in Warschau und Budapest nicht gefallen. Die deutsche Kandidatin beließ es nicht bei Pathos und Beschwörung der rechtsstaatlichen Grundfesten der EU. Sie kündigte sogar neue Mechanismen an, um Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern der Union durchzusetzen. Sie kündigte an, die Vergabe von EU-Mitteln an die Erfüllung der Rechtsstaats-Kriterien zu koppeln. Wird von der Leyen also bei diesem Thema so unnachgiebig sein wie der ungeliebte Timmermans in seiner Funktion als Vize-Chef der Kommission?

Das Wahlergebnis deutet darauf hin, dass die osteuropäischen Staaten trotz der Rede davon ausgehen, dass es mit von der Leyen bei der Rechtsstaatsfrage zu Kompromissen kommen könnte. Mit welchen Argumenten wurden die Mächtigen von Fidesz-Partei in Budapest und PiS in Warschau dazu bewogen, ihren Abgeordneten in Straßburg aufzutragen, für von der Leyen zu stimmen?

Es geht in dem Streit aber auch um Psychologie. Der Streit um den Rechtsstaat ist nur das prominenteste Symbol eines Unbehagens der Regierungsparteien in Ostmitteleuropa mit der EU-Politik. Brüssel, das ist in der Darstellung der Visegrad-Regierungen ein Ort, an dem übermütige Politiker undurchdachte Ideen aushecken, die sie den Nationalstaaten überstülpen wollen.

Auch von der Leyens Vorschlag, die Kommission paritätisch mit Frauen und Männern zu besetzen, kommt im Osten nicht gut an. Jedes Land soll demnach je zwei Kandidaten für jeden ihm zustehenden Platz in der EU-Kommission vorschlagen. Orbáns Antwort darauf war kurz und direkt: "Nein."

Auf die Frage von Reportern auf den Fluren des Budapester Parlaments sagte er: "Diese Bedingung können wir nicht erfüllen". Warum nicht? "Weil wir schon entschieden haben, wer unser Kandidat ist." Ungarns Kandidat für einen Posten als EU-Kommissar ist der bisherige Justizminister Laszlo Trocsanyi. Bei ihm handelt es sich um den Justizminister, unter dem der Rechtsstaat in Ungarn geschwächt wurde. Er selbst behauptet das Gegenteil. Schon bei dieser Personalie wird von der Leyen Farbe bekennen müssen.

Es kann sein, dass seine Kandidatur für einen Kommissionsposten die Anhörungen im EU-Parlament nicht überlebt. Aber wird von der Leyen es wagen, ihn gar nicht erst vorzuschlagen, weil Ungarn nicht auch eine Frau ins Feld schickt? Das dürfte gleich zu Beginn ihre Beziehung zu Ungarn verderben - aber umgekehrt verliert sie ihr Gesicht, wenn sie Orban die Nominierung durchgehen lässt.

In Warschau bemühten sich die Politiker der Regierungspartei am Tag nach der Wahl darum, das Thema Rechtsstaatlichkeit zu ignorieren. In den regierungsnahen Medien hieß es vor allem, die Nominierung und Wahl der deutschen EU-Kommissionspräsidentin sei ein "Erfolg Polens". Premierminister Morawiecki begründete seinen Einsatz für von der Leyen mit "ihren Ansichten zur Sicherheitspolitik".

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