Philipp Fritz

Journalist, Warschau, Berlin

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Artikel

Regierungspartei PiS: Warum Polens Regierung zum Antisemitismus schweigt

Bevor die Puppe malträtiert wurde, hing sie an einem Laternenmast. | Quelle: AFP/Getty Images

Seit der Unterzeichnung des sogenannten Holocaust-Gesetzes im vergangenen Jahr haben sich antisemitische Vorfälle in Polen gehäuft. Die Regierungspartei PiS verurteilt sie nur zögerlich - wenn überhaupt. Das hat einen taktischen Grund.

„Zehn, elf, zwölf, dreizehn", rufen die Kinder. Sie zählen laut mit, während ein älterer Mann mit einem langen Holzstock auf eine übergroße Puppe eindrischt. Dann, nachdem er ein Zeichen gegeben hat, rennen sie los und prügeln selbst wild auf den Strohmann ein.

Er hat eine nachgebildete krumme, rote Nase, Schläfenlocken und einen Hut, wie chassidische Juden ihn oft tragen. Schließlich wird die Puppe, umringt von einer Menschenmenge, die Straße heruntergezogen, aufgeschnitten, angezündet und unter dem Gegröle der schaulustigen Familien in ein Gewässer geworfen.

Diese verstörende, antisemitische Szene trägt den Namen „Judasgericht". Abgespielt hat sie sich nicht etwa im 19. Jahrhundert, sondern am 19. April dieses Jahres in dem Dorf Pruchnik im Südosten Polens. Ein Video von dem Vorfall verbreitete sich blitzschnell über YouTube. Die Empörung in Polen, wenig später auch international, war riesig.

Polnische Oppositionspolitiker und der Innenminister der Landes, Joachim Brudzinski, verurteilten das Ganze als antisemitisch. Auf Twitter sprach er von einer „idiotischen, pseudoreligiösen Chuzpe". Die mit Abstand meisten Mitglieder der nationalkonservativen Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) schwiegen jedoch.

Diese Zurückhaltung ist typisch für die Partei des mächtigen Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski - zumindest seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015. Bis dahin konnte ihr nur schwerlich vorgeworfen werden, nicht um das polnisch-jüdische Verhältnis bemüht zu sein.

Gerade Staatspräsident Lech Kaczynski, Zwillingsbruder von Jaroslaw, der 2010 beim Flugzeugabsturz von Smolensk ums Leben kam, hatte sich in der Sache verdient gemacht. Er betonte mehrfach die Bedeutung der jüdischen Geschichte für Polen und leugnete nicht, dass nach dem deutschen Überfall auf sein Land auch einzelne Polen Verbrechen an Juden begangen haben.

Heute allerdings geraten die Nationalkonservativen immer wieder wegen ihrer Identitäts- und Geschichtspolitik mit der israelischen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu aneinander. Dabei sehen beide Seiten sich eigentlich als enge Partner. Im Innern ignoriert die PiS antisemitische Entgleisungen von Parlamentsangehörigen, oder sie redet Ereignisse wie das von Pruchnik klein.

Seit der Unterzeichnung des sogenannten Holocaust-Gesetzes im Februar 2018 kommt es in sozialen Netzwerken immer wieder zu antisemitischen Hasswellen. Ursprünglich sollte das Gesetz es unter Strafe stellen, wenn behauptet wird, Polen hätten sich während des Zweiten Weltkriegs an von Deutschen begangenen Verbrechen beteiligt.

Nach Protesten aus Israel und den USA wurde es abgeschwächt. Erst im Mai dieses Jahres demonstrierten in Warschau Nationalisten vor der US-Botschaft. Dabei hielten sie Plakate hoch, auf denen zu lesen war: „Poland will not be your next Palestine" oder „Not for Holocaust Industry". Die polnische Regierung hielt sich mit Verurteilungen aber zurück.

„Solche Fälle haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen", sagt Michal Bilewicz, Professor für Psychologie und Antisemitismusforscher an der Universität Warschau im Gespräch mit WELT. „Studien zeigen, dass polnische Juden ihrer Regierung heute in geringerem Maße zutrauen, sie vor Anfeindungen zu schützen, als Juden in anderen europäischen Ländern."

Das sogenannte „Judasgericht" von Pruchnik wurde von rechten und regierungsnahen Publizisten lediglich als österlicher Volksbrauch abgetan, der von Katholiken in dieser Region bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begangen worden sei. Für Antisemitismusforscher Bilewicz ist dieses Relativieren ein fatales Signal an die jüdische Gemeinde in Polen. Das Unsicherheitsgefühl hat zugenommen.

Gemeindemitglieder denken an das Jahr 1968 zurück. Damals wurden Tausende Juden im Zuge einer antisemitischen Kampagne der Kommunistischen Partei aus dem Land gedrängt. Diejenigen, die blieben, verschwiegen fortan ihre jüdische Identität. Etwas Derartiges war für viele nur 23 Jahre nach dem deutschen Völkermord gerade in Polen nicht denkbar.

Schließlich befanden sich die Vernichtungslager auf polnischem Boden, drei Millionen der ermordeten Juden waren Polen, jeder zweite. Im Land lebte damals die größte jüdische Gemeinde Europas. Auch ethnische Polen wurden millionenfach ermordet. Weil Polen historisch Opfer waren, tut die polnische Regierung sich heute so schwer damit, einzugestehen, dass es polnischen Antisemitismus gab und gibt.

Auch in den eigenen Reihen, wie das Beispiel von Parteimitglied Krystyna Pawlowicz zeigt. Ihre antisemitischen Hasstiraden gegen die US-Botschafterin Georgette Mosbacher auf Twitter wurden von der Parteiführung nicht öffentlich verurteilt.

„Wir waren die größten Opfer", sagte stattdessen Premierminister Mateusz Morawiecki im Mai. Das Schweigen der PiS zu antisemitischen Vorfällen hat aber noch einen anderen Grund als die eigene Opfergeschichte.

Vor den EU-Wahlen formierte sich das rechtsradikale Bündnis Konfederacja (Konföderation). Dessen Mitglieder sind offen antisemitisch - und haben ausgerechnet die PiS zu ihrer Hauptfeindin erklärt. Während einer Fernsehdebatte hielt Konfederacja-Kandidat Konrad Berkowicz der stellvertretenden Sportministerin Anna Krupka eine Kippa über den Kopf. Die Konfederacja versuchte, die PiS als „jüdische Partei" zu verunglimpfen und ihr so Stimmen abzujagen.

Ihr Mitglied Grzegosz Braun verbreitete Verschwörungstheorien wie die, dass die PiS Pläne schmiede, massenweise Juden aus Israel in Polen anzusiedeln. Vor den Europawahlen wurden der Konfederacja dank dieser Methoden acht Prozent der Stimmen prognostiziert.

Sie sollte vor allem national orientierte junge Männer an die Urnen holen, die auch die Zielgruppe der PiS sind. Deswegen wurde von deren Parteigrößen Antisemitismus über Monate nur selten laut verurteilt. Schließlich blieb die Konfederacja unter fünf Prozent.

Niemand dürfte darüber erleichterter sein als Jonny Daniels. „Ich war das Ziel ihrer antisemitischen Kampagne", sagt er WELT. Daniels, Vorsitzender der Stiftung From the Depths und selbst Jude, unterhält enge Beziehungen zur Parteiführung, gerade zu Premierminister Morawiecki.

Die Konfederacja hat versucht, ihn mit einer antisemitischen Plakatkampagne als „jüdischen Strippenzieher" anzugreifen. „Es gibt in jedem Land einen antisemitischen Bodensatz, auch in Polen. Das Ergebnis für die Konfederacja hat aber gezeigt, dass er kleiner ist, als viele erwartet haben", sagt er.

Daniels ist dafür bekannt, die Politik der PiS zu verteidigen. Regelmäßig hebt er hervor, dass Juden in Polen sicherer seien als in Deutschland oder Frankreich, wo sie Polizeischutz brauchen und ihnen davon abgeraten werde, mit Kippa auf die Straße zu gehen.

In einem Punkt aber findet er kritische Worte für die PiS: „Die Partei ist ohne Zweifel dafür mitverantwortlich, dass die polnisch-jüdischen und polnisch-israelischen Beziehungen so schlecht sind wie lange nicht." Allein das Gerede über das Holocaust-Gesetz habe Schaden angerichtet. Auch ausgebliebene Reaktionen auf das „Judasgericht" von Pruchnik beklagt er: „Führende PiS-Politiker hätten sich deutlicher distanzieren und es verurteilen sollen."

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