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Philipp Fritz

Journalist, Warschau, Berlin

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Interview

„Nord Stream 2 ist gefährlich. Auch für Deutschland"

Die Romane und Essays von Juri Andruchowitsch, 59, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche. | Quelle: Philipp Fritz

Der Schriftsteller Juri Andruchowitsch gilt als wichtigster Intellektueller der Ukraine. Kurz vor der Präsidentschaftswahl macht er sich Sorgen um die fehlende Unterstützung aus Europa. Manchmal fühle es sich so an, als werde die Ukraine „geopfert".

WELT: Herr Andruchowitsch, am 31. März wählt die Ukraine einen Präsidenten. Während der Maidan-Proteste 2013 und 2014 schauten viele Europäer auf Ihr Land, aber in den vergangenen Jahren hat das Interesse stark nachgelassen. Müssen wir deswegen jetzt besonders genau hinschauen?

Juri Andruchowitsch: Das weiß ich nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, dass die Ukraine von Bedeutung für Europa ist. Es ist das einzige Land, das einen Teil seines Territoriums verloren hat, weil es Atomwaffen abgegeben hat. Das hat eine globale Dimension. Kein Land kann es sich jetzt noch leisten, auf Waffen zu verzichten. Nichts ist mehr wie zuvor. Das wurde in vielen europäischen Hauptstädten nicht verstanden. Die Reaktionen auf die Annexion der Krim waren zu unentschieden und weich.

WELT: Warum ist das so?

Andruchowitsch: Manchmal fühlt es sich so an, als wollte man uns zugunsten von wirtschaftlichen Projekten opfern. Dabei kann Europa es sich nicht leisten, eine demokratische Ukraine zu verlieren. Die europäische Idee ist sowieso nicht gerade in einem guten Zustand.

Es ist erschütternd, dass an die Ukraine die falschen Signale gesendet werden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir nach 2014 keine Kolonie und keine Diktatur geworden. Es gibt hier ein europäisches Bewusstsein, trotz aller Korruption und aller anderen Makel. Aber die Europäer müssen sich auch ehrlich für uns engagieren.

WELT: Was heißt das konkret?

Andruchowitsch: Ich denke an Nord Stream 2. Ich möchte nicht Deutschland anklagen, ohnehin glaube ich, dass man den Bau der Pipeline nicht mehr aufhalten wird. Die Deutschen wollen einfach diese Gasleitung haben.

Es wäre jedoch schon mal gut, wenn die deutsche Gesellschaft begreifen würde, wie gefährlich dieses Projekt ist, nicht nur für uns, sondern auch für Deutschland. Sehen Sie sich an, wie viel Schaden bereits angerichtet wurde: Die EU-Mitglieder streiten sich untereinander deswegen. Putin hat also in doppelter Hinsicht einen Sieg errungen.

WELT: Sie gelten international als zuverlässiger Ukraine-Deuter - welcher der drei Spitzenkandidaten wird denn nun die Präsidentenwahl am Sonntag gewinnen - Poroschenko, Ex-Premier Julia Timoschenko oder der Fernsehkomiker Wolodimir Selenski?

Andruchowitsch: Ich muss Sie enttäuschen. Das erste Mal in meinem Leben weiß ich so kurz vor einer Wahl selbst nicht, für wen ich stimmen werde. Wie soll ich da für mein ganzes Land sprechen? Wahrscheinlich werde ich mich erst in der Wahlkabine dafür entscheiden, wo ich mein Kreuz setze. Ob ich mich für Petro Poroschenko entscheiden werde, weiß ich noch nicht.

WELT: Poroschenko hat an Zustimmung verloren. Aber hat die Ukraine in den vergangenen Jahren unter ihm nicht enorme Fortschritte gemacht?

Andruchowitsch: Ja, mein Land ist demokratischer geworden. Vergessen wir dabei nicht, dass der Krieg im Osten der Ukraine weiter andauert. Vor diesem Hintergrund ist das umso beachtlicher. Viele meiner Landsleute glauben, den Krieg nicht zu spüren, vom Westen aus ist die Front immerhin mehr als 1000 Kilometer entfernt. Das verstehe ich, aber es ist natürlich dummes Zeug. Denn dieser Zustand frisst Ressourcen, er hemmt uns in unserer wirtschaftlichen und somit auch gesellschaftlichen Entwicklung.

Verstehen Sie mich nicht falsch, die Obrigkeit gilt es immer kritisch zu betrachten, aber was wir vor den Wahlen erleben, ist ein wahrer „Präsidentenhass". Mir scheint, im selben Maße, wie einige den Krieg ausblenden, vergessen sie Poroschenkos Erfolge. Gerade die Mittelschicht pflegt eine nahezu radikale Ablehnung des Präsidenten. Poroschenkos Anhänger wiederum hassen ähnlich inbrünstig die anderen Kandidaten. Das ist eine nationale Psychose.

WELT: Eine solche Polarisierung ist aber heutzutage doch kein rein ukrainisches Phänomen.

Andruchowitsch: Das ist richtig. Dass Menschen sich online radikalisieren, ihre Sprache und ihre Sitten verrohen, sehen wir überall. Wir in der Ukraine haben es jedoch zusätzlich mit den aggressivsten russischen Desinformationskampagnen zu tun, die es überhaupt gibt. Die wirken wie ein Katalysator für unsere Dämonen. Für unseren Umgang miteinander im Internet haben wir einen Begriff: Ins Deutsche lässt er sich mit „Internet-Scheißerei" übersetzen; er charakterisiert auch ganz gut unsere nationale Psychose.

Im Angesicht russischer Propaganda müssten unsere Politiker eigentlich Heilige sein, aber sie sind es nicht, sie sind sogar Sünder. Sie können sich vorstellen, was eine russische Trollfabrik aus einem Sünder macht, oder? Das politische Klima ist vergiftet, und zu einem großen Teil liegt die Verantwortung dafür in Moskau.

WELT: Timoschenko, die aus einer vergangenen Epoche zu kommen scheint, und der Komiker Selenski liegen in Umfragen vor Poroschenko. Was sagt das über die politische Kultur in der Ukraine?

Andruchowitsch: Es verrät nichts Gutes. Aber die Ukraine ist keine Ausnahme. Vor uns haben schon die Italiener und sogar die Amerikaner Amateure in ihre höchsten politischen Ämter gewählt. In Europa werden gerade überall die Systeme von Außenseitern aufgemischt. In dem Sinne sind wir vielleicht sogar typisch europäisch.

Unsere dramatische Spannung ergibt sich dadurch, dass das alles auf der Bühne der Geopolitik spielt. Die Ukraine steckt zwischen zwei Blöcken, jede Wahl ist für uns also auch eine zivilisatorische Wahl. Das war 2014 so, und, wenn auch nicht so offensichtlich, so wird es jetzt wieder sein.

WELT: Aber es ist doch keiner der Spitzenkandidaten prorussisch eingestellt.

Andruchowitsch: Zumindest treten sie nicht so auf. Mich tröstet, dass diejenigen, die offen prorussisch sind, abgeschlagen hinten liegen. Aber Timoschenko und Selenski scheinen keine Ideen zu haben, wie sie mit Moskau umgehen sollen. Darin liegt die Gefahr. Ich traue einer Figur wie Selenski nicht zu, die schwierige Aufgabe zu bewältigen, die Ukraine weiter nach Europa und zum Atlantik zu führen, also das Land sicher in westliche Strukturen zu integrieren.

Das ist auch eine Mentalitätsfrage. Obwohl er viel jünger ist als ich, ist sein Humor sehr alt, er ist noch sowjetisch. Was damals Witze über Mongolen oder Moldawier waren, das sind für den Komiker Selenski heute zum Beispiel schwule Männer. Selbst sollte er prowestlich sein, müsste er an seiner Wahrnehmung der Welt arbeiten, um die Ukraine weiter nach Westen zu führen.

WELT: Sie haben gesagt, dass die Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges im Osten zu verstehen ist. Aber ist der Krieg nach fünf Jahren nicht Normalität geworden?

Andruchowitsch: Wir müssen die Qualität von Begriffen wie Krieg und Frieden neu bewerten. Russland ist ein Meister in hybrider Kriegsführung. Wir befinden uns in einem merkwürdigen Zwischenzustand, der vielleicht mit den Balkankriegen in den 90er-Jahren zu vergleichen ist. Viele Menschen begreifen gar nicht, dass Krieg ist, oder sie nehmen es hin, ohne sich zu engagieren.

Das liegt daran, dass die Kriegshandlungen einerseits entgrenzt sind, andererseits aber eingegrenzt bleiben. Ein Freund von mir sagte kürzlich, dass Putin noch gar nicht gegen uns gekämpft habe. Wir wüssten nicht, wie ein massiver russischer Angriff aussieht. Da ist etwas dran.

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Erstellt am 29.03.2019
Bearbeitet am 29.03.2019

Quelle
https://www.welt.de/politik/ausland...

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Themen-Tags
nord stream 2 poroschenko russland ukraine selenski andruchowitsch korruption krim lviv
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