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Radio-Beitrag

Europa neu gründen?

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Emmanuel Macron, Frankreichs linker Wirtschaftsminister, will Europa neu gründen. Warum denn nicht?

Es gibt viele Leute, die über Europa meckern. Jean Claude Juncker gehörte bisher nicht dazu. Aber nun sagte der Kommissionspräsident in seiner ersten „State of the Union“-Rede diese Woche in Straßburg: „Unsere EU ist in keinem guten Zustand. Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union. Und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union.“ Das sind warme Worte, aber zugleich rätselhaft. Denn seit langem hat das Europäische Projekt an Glanz verloren. Und seitdem fragen sich die Menschen, wofür diese EU eigentlich steht.

So auch Emmanuel Macron, der Wirtschaftsminister Frankreichs. Macron ist jung, erst 37 Jahre alt, und er sagte neulich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, es sei Aufgabe seiner Generation, Europa neu zu gründen. Macron sagte: Die Richtung ist verlorengegangen. Die EU wirkt wie eine riesige Bürokratie, sie wirkt hohl, ohne Vision, ohne politisches Ziel. Und meine Generation muss sich entscheiden: Will sie Totengräber oder Neugründer Europas sein?

Irgendwo hat Macron recht. Die letzte große Vision Europas endete 2005, als Frankreich die EU-Verfassung in einem Referendum ablehnte. Seitdem hat Europa vor allem Probleme: Finanzkrise, Eurokrise, Ukrainekrise und jetzt auch Flüchtlingskrise. Die EU machte in den letzten Jahren nicht den Eindruck, als könnte sie irgendetwas bewegen oder gestalten. Stattdessen versuchte sie, mit Problemen fertig zu werden - und machte sie nur noch schlimmer.

Wie schön wäre ein Europa, das für etwas steht. Aber wie könnte es aussehen? Macron gibt in seinem Interview nur vage Hinweise. Er kontrastiert das europäische Modell mit anderen in der Welt. Das Europäische Modell: Nicht der Ultraliberalismus der Vereinigten Staaten, nicht der Staatskapitalismus Chinas, nein: Das Europäische Modell als Vereinbarkeit von individueller Freiheit mit sozialer Gerechtigkeit. Diese Kombination macht uns zu Europäern.

Wie steht es um dieses Versprechen? Wie frei ist Europa? Wie gerecht ist es?

Die beiden größten Krisen, die Europa umtreibt, Euro- und Flüchtlingskrise, zielen jeweils auf eine Seite des europäischen Versprechens. In der Eurokrise wird die soziale Sicherheit des Kontinents verhandelt, Gerechtigkeit, Solidarität. Es ging bei den Verhandlungen Griechenlands mit den Institutionen ja auch immer darum, wie großzügig ein Sozialstaat sein darf und wer in harten Zeiten als erster dran glauben muss. Und so kam es zu symbolträchtigen Bildern, dass mitten in Europa Menschen auf der Straße schlafen müssen, und im Krankenhaus mit Bargeld bezahlen, weil der Sozialstaat nicht mehr funktioniert. Die EU ist in der Eurokrise ziemlich ungerecht.

In der Flüchtlingskrise wird das zweite Versprechen der EU verhandelt, Freiheit in ihrer elementarsten Form, Bewegungsfreiheit. Und gerade in Europa gibt es dafür kein besseres Bild als bröckelnde Mauern. Naja, und heute? Heute baut Ungarn einen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Serbien und hält Flüchtlinge am Budapester Bahnhof fest. Heute bleiben Züge stehen, die Grenzen überqueren sollen. Europa als Kontinent der Freiheit? Es gab schon mal Zeiten, wo man das eher glauben konnte als heute.

Schauen wir zuletzt auf Macrons Generation, die Europa ja neu gründen soll. Schauen wir auf Europas Jugend. Erster Befund: Ihr geht es schlecht. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, im Süden Europas liegt sie bei 25 Prozent. Europas Junge wohnen aus Kostengründen jetzt häufiger daheim und besitzen seltener Autos. Und wo die Situation besser ist, in Nordeuropa, geht zumindest ein Gedanke um: Ich werde es mal schlechter haben als meine Eltern. Aber das ist noch nicht alles: Denn es gab nie eine Generation, die so gebildet war wie heute. Keine, die so oft im Ausland war, die so viele Sprachen spricht wie heute. Wenn man fragt, was die EU für junge Europäer bedeutet, dann steht ganz oben: offene Grenzen.

Und diese offenen Grenzen sind bedroht und die soziale Sicherheit ist es auch. Macron hat Recht, wenn er sagt, dass Europa eine positive Vision seiner selbst braucht. Aber dazu muss man nicht lange suchen. Eurokrise und Flüchtlingskrise zielen auf das Herz des europäischen Selbstverständnisses. Nichts wäre europäischer, als eine Antwort darauf zu finden.

Bayern 2, Jazz&Politik, vom 12. September 2015.