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Radio-Beitrag

Politik des Absurden. Fehlt Camus?

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Es muss im Juni 2013 gewesen sein, als die Zuschauer der Nachrichtenformate verlernten, sich zu wundern. Es war die Zeit der Enthüllungen Edward Snowdens. Erst berichteten die Medien, dass der Militärgeheimdienst NSA aus den USA massenhaft Daten aus sozialen Netzwerken abschöpfe. Dann ging es um den Mail-Verkehr der Internetuser. Plötzlich war auch der britische Geheimdienst GCHQ im Spiel. Dann – nach einer sommerlichen Pause – das Merkel-Handy. In der Debatte fielen Sätze wie jener des Cheftechnikers der CIA, Gus Hunt. Er erklärte, wie wichtig es sei, Knotenpunkte einer Datenmenge miteinander zu verknüpfen. Und er sagte wörtlich: „Da man Punkte, die man nicht hat, auch nicht miteinander verbinden kann, versuchen wir, alles zu sammeln und auf ewig aufzubewahren.“ Es gibt nichts mehr, was wir in Sachen NSA-Affäre nicht mehr erwarten würden.

Gleichzeitig wurden alle Enthüllungen des letzten halben Jahres begleitet von offizieller Seite: Dort war selten Klares zu hören, dafür umso mehr Beschwichtigungen: So viel wird gar nicht abgehört, wir sammeln gar keine Daten, bloß Meta-Daten. Außerdem, Daten…ihr seid doch auch bei Facebook, oder? Und schließlich: Immer langsam, denkt doch mal an die deutsch-amerikanische Freundschaft. Jetzt ist kühler politischer Realismus gefragt!

Oft hören wir technokratische Erklärungen, sie handeln von technologischer Machbarkeit, von Verschlüsselungsverfahren, von Unterseekabeln, von Zuständigkeiten nationaler und internationaler Behörden. Allein die Abkürzungen: NSA, GCHQ, SSL. Wer seiner Empörung Luft machen will und fragt, wie so etwas eigentlich sein könne, der wird verwiesen: Erst mal die Zuständigkeiten klären. Momentan hören wir ja gar nicht ab – aber von früher reden wir besser nicht. Wir arbeiten daran.

Das Problem daran sind nicht die Ausflüchte und schalen Ausreden. Das wäre nichts Neues. Das Problematische sind die Verweise auf andere Ebenen, die anderen Regeln folgen. In denen technische oder bürokratische Rationalität gilt. Wir haben eine einfache Frage: „Wie kann die NSA so etwas machen?“ Und wir bekommen: Eine juristische Antwort, die erklärt, warum es der NSA verboten ist, amerikanische Bürger zu überwachen, aber erlaubt, sämtliche andere Menschen auf der Welt zu bespitzeln. Eine bürokratische Antwort, die erklärt, welcher Geheimdienst eigentlich für was zuständig sei und man diese Frage jetzt gar nicht beantwortet könne. Eine politische Antwort, die erklärt, warum Großbritanniens Geheimdienste mitziehen, andere aber nicht.

Was dabei verloren geht: Die Empörung. Die einfache Erkenntnis, dass das, was passiert, nicht sein darf.

Was übrig bleibt: Der Einzelne. Ein einzelner Mensch, der der NSA gegenübersteht, oder der Finanzkrise, oder dem globalen Krieg gegen den Terror. Ein Einzelner, der Macht und der Sprache abstrakter Systeme völlig ausgeliefert. Ganz klein gegenüber einer Politik, die nonchalant sämtliche Gewissheiten zerstört, an die die Aufklärung einmal geglaubt hatte.
Der Einzelne. Das ist eine Rolle, in der sich einer wie Albert Camus zeit seines Lebens wiederfand. Als Arbeitersohn an der Universität von Algier. Als Mann aus der äußersten Provinz in den Salons von Paris. Als Anti-Ideologe im Zeitalter der Extreme. Sein ganzes Werk kreist darum, wie es möglich ist, in einer grotesken Welt Haltung zu entwickeln. Was hätte Camus uns heute zu sagen?

Zuerst einmal hätte er eine Diagnose: Das, was wir erleben, NSA, Finanzkrise, Krieg gegen den Terror, ist absurd. Es ist absurd, weil die politische Wirklichkeit nicht zu dem passen will, an das wir glauben. Wie wir uns und unsere politischen Systeme verstehen. Camus schreibt: „Absurd aber ist der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird.“ Absurd ist die völlige Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der NSA-Affäre und der Vorstellung, Amerika sei und bleibe das Land der Freien. Absurd ist es, wenn der Diskurs über die Eurokrise permanent die schwäbische Hausfrau bemüht, während die Selbstmordrate in Griechenland steigt. Die Rechtfertigungen und Erklärungen, die wir von offiziellen Seiten zu hören bekommen, versuchen, uns altbekannte, klare Bilder zu vermitteln, aber sie helfen nicht. Sie erst machen eine ungerechte Politik zu einer Politik des Absurden.

Was aber tun? Auch darauf hätte Camus eine Antwort. Er schreibt: „Leben heißt: das Absurde leben lassen. Das Absurde leben lassen heißt: ihm ins Auge sehen.“ Das aber heißt, eine Haltung einzunehmen. Nein zu sagen. Trotz der Macht der NSA. Trotz der technokratischen Abwiegelungen. Trotz realpolitischer Konsequenzen. Jeder Einzelne gegen die Macht der Systeme. Ist das absurd?
Sicherlich. Doch gerade das ist Camus‘ Ideal: Der absurde Mensch. Einer, der sich keine Illusionen macht. Der sich der eigenen Grenzen bewusst ist. Der nicht auf eine bessere Zukunft hofft und nicht der guten alten Zeit hinterher trauert. Der klar sieht. Und der trotz allem weitermacht, weil er die Kraft dazu allein aus dem Leben und dem Moment schöpft.
Wie Sisyphos, für Camus der absurde Held schlechthin. Verdammt dazu, immer wieder denselben Stein den Berg hinauf zu wälzen und ihn hinab rollen zu sehen. Interessant ist Sisyphos für Camus nicht auf dem Weg zum Gipfel: Dort ist er nur bei der Arbeit, in der Routine gefangen. Interessant ist Sisyphos beim Rückweg, hinab ins Tal, dem herunter rollenden Felsen nach. Beim Abstieg ist er sich seiner Lage bewusst. Er weiß nun, dass seine Lage tragisch ist. Aber, so Camus, „die erdrückenden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden.“

Und so macht Sisyphos aus seinem Schicksal seinen Lebensweg, aus dem Felsen, den ihm die Götter gaben, seine Sache. Und so kann er uns lehren, eine Haltung zu entwickeln in unserer Zeit. Die großen Erfolge werden zwar ausbleiben. Vielleicht ist Widerstand aussichtslos. Aber deswegen ist er nicht wertlos. Die Absurdität der Lage ist erkannt, jetzt heißt es: Steine wälzen.

Jazz & Politik, 30. November 2013