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Großbritannien: Rebellion der Niedriglöhner

Uber-Fahrer protestieren in London. © Tolga Akmen/AFP/Getty Images

Man könnte meinen, eine Gruppe feiernder Fußballfans hätte sich verirrt. Vor einem gläsernen Hochhaus bei der U-Bahn-Station Aldgate im Osten Londons steht eine Menschenmenge, vielleicht 100 Leute, die mit Vuvuzelas, Trillerpfeifen und Trommeln einen Höllenlärm veranstalten. Zuweilen werden sie von roten Rauchwolken vollständig eingehüllt. Ein Polizist versucht, etwas Ordnung zu schaffen: "Lärm ist okay, aber kein Rauch bitte", sagt er zu einem jungen Mann, den er für den Verantwortlichen hält. Der nickt. Bald darauf wird der nächste Feuerwerkskörper entzündet.

Der bunte Auflauf ist keine Feier, sondern ein Protest. Die Demonstranten sind Uber-Fahrer und gerade eben haben sie ihren ersten Streik in Großbritannien begonnen. Einen Tag lang wollen sie die Arbeit ruhen lassen. Uber-Kunden sind aufgerufen, keine Fahrten zu bestellen.

Die Fahrer wollen höhere Preise verlangen dürfen - zwei Pfund pro Meile, umgerechnet etwa 2,30 Euro, statt 1,25 Pfund wie bisher - und sie wollen, dass ihnen in Zukunft eine geringere Provision abknöpft. Derzeit steckt das Unternehmen 25 Prozent ihres Umsatzes ein; die Streikenden wollen den Satz auf 15 Prozent reduzieren. Babul Islam, einer der Protestierenden, sagt: Er arbeite fünf bis sechs Tage pro Woche, aber um seine Familie zu ernähren, müsse er Zehn- bis Zwölf-Stunden-Schichten fahren.

Manchmal deaktiviert Uber seine Fahrer auch ganz plötzlich, ohne dass sie je den Grund erfahren. In solchen Fällen sollen die Fahrer zumindest ein Berufungsrecht haben, sagt Yaseen Aslam, der Gründer von United Private Hire Drivers (UPHD), der Gewerkschaft der Uber-Fahrer. "Wir fordern nichts Außergewöhnliches, sondern setzen uns lediglich für die grundlegenden Rechte am Arbeitsplatz ein, wie sie auch in anderen Sektoren die Regel sind", sagt er.

Uber-Fahrer, Kellner, Krankenpflegerinnen

Der Streik der Uber-Fahrer ist Teil einer ganzen Menge von Disputen, die derzeit auf den unteren Sprossen der britischen Einkommensleiter ausgetragen werden - dort, wo es kaum Arbeitsschutz und Krankengeld gibt, wo die Anstellungsverhältnisse unbeständig sind und die Arbeitszeiten lang. Das ist kein vernachlässigbarer Teil der Wirtschaft: Wie der Gewerkschaftsdachverband TUC im vergangenen Jahr errechnet hat, verdienen über drei Millionen Menschen in Großbritannien ihren Lebensunterhalt in prekären Arbeitsverhältnissen. Das sind 27 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Teilweise sind digitale Plattformen wie Uber und der Essensbringdienst Deliveroo dafür verantwortlich. Aber auch Kellner, Krankenpflegerinnen und Aushilfslehrerinnen sind betroffen.

In den vergangenen Jahren machten die sogenannten zero-hour contracts immer wieder Schlagzeilen:Verträge für Aushilfen auf Abruf. Sie verpflichten die Angestellten, auf der Matte zu stehen, wenn der Arbeitgeber sie braucht - braucht er sie nicht, haben sie eben Pech gehabt. In den meisten EU-Ländern sind solche Verträge entweder stark reguliert oder gar nicht erlaubt. In Großbritannien hingegen arbeiten derzeit 1,8 Millionen Angestellte in zero-hour contracts.

Großbritanniens flexibler Arbeitsmarkt wird von seinen Anhängern immer wieder als Erfolgsmodell angepriesen: Ihm sei es zu verdanken, dass die Arbeitslosigkeit hier vergleichsweise gering sei, schreibt etwa der Gewerbeverband CBI. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Entscheidend ist auch die Qualität der Jobs - und hier schneidet Großbritannien mies ab.

Es ist beispielsweise das einzige OSZE-Land, in dem von 2007 bis 2015 die Löhne sanken, während die Wirtschaft wuchs. Vor allem ärmere Haushalte konnten ihre Realeinkommen seit Anfang der 2000er-Jahre kaum erhöhen, Millionen stehen heute sogar schlechter da als vor 15 Jahren. Die Schulden der Privathaushalte sind auf insgesamt 200 Milliarden Pfund gewachsen. Dem nationalen Rechnungshof zufolge geben die ärmsten Haushalte ein Viertel ihres Monatseinkommens für den Schuldendienst aus.

Der Chefökonom der Bank of England, Andy Haldane, sagte letztes Jahr, dass die stagnierenden Löhne unter anderem auf die Verbreitung von unsicheren Arbeitsverhältnissen zurückzuführen seien. So gesehen gleiche die heutige Wirtschaft der vorindustriellen Zeit, in der Tarifverhandlungen und Gewerkschaften noch weitgehend unbekannt waren.

Zu lange aufs Klo? Das wurde sanktioniert

Manche der Skandale, die in den vergangenen Jahren ans Licht kamen, könnten direkt aus der Welt von Charles Dickens und der viktorianischen Arbeitshäuser stammen. Der Sportwarenhändler Sports Direct zum Beispiel zahlte seinen Angestellten weniger als den Mindestlohn und überwachte sie obsessiv: Eine zu lange Toilettenpause konnte sanktioniert werden; wer zu langsam durch die Gänge ging, wurde via Lautsprecher zurechtgewiesen; und jeden Tag nach der Arbeit wurden die Angestellten gefilzt. Eine parlamentarische Untersuchung kam 2016 zum Schluss, dass das Unternehmen seine Arbeitnehmer nicht wie menschliche Wesen behandelt habe. Ein ähnlicher Kontrollwahn herrscht in den Warenhäusern von Amazon und in den über 6.000 Callcentern im Land.

Dass die Arbeitnehmer angesichts solcher Zustände nicht ständig auf den Barrikaden stehen, hat auch mit dem Niedergang der Gewerkschaftsbewegung seit den 1980er-Jahren zu tun. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Zahl der Mitglieder auf rund sechs Millionen halbiert. Der öffentliche Sektor hat viele Dienstleistungen an private Unternehmen ausgelagert, was es ebenfalls erschwert, sich am Arbeitsplatz zu organisieren. Und in der Gig Economy, wo jeder auf sich allein gestellt ist, ist der Kontakt mit Kollegen sowieso praktisch ausgeschlossen.

Seit ein paar Monaten aber fordern immer mehr prekär Beschäftigte eine angemessene Bezahlung und umfassende Rechte am Arbeitsplatz. Vergangene Woche beispielsweise beteiligten sich Angestellte in der britischen Gastronomie an einem international koordinierten Arbeitsausstand: Kuriere von Uber Eats, die Mahlzeiten per Fahrrad von Restaurants zu ihren Kunden transportieren, Kellner der Pubkette JD Weatherspoon sowie Angestellte der Fastfoodketten McDonald’s und TGI Fridays legten die Arbeit nieder, um gegen ihre miserablen Löhne zu protestieren.  

Kleine Gewerkschaften führend

Auch die Radfahrer des Essenlieferers Deliveroo beteiligten sich am Streik. Im Juni hatten 50 Kuriere der Plattform bereits einen Erfolg erzielt: Ein Gericht verurteilte Deliveroo dazu, ihnen eine sechsstellige Summe zu zahlen, weil ihnen grundlegende Rechte wie Mindestlohn und Feriengeld vorenthalten worden waren. Kuriere von Hermes hatten kurz zuvor das Recht gewonnen, als Angestellte eingestuft zu werden, nicht als selbständige Unternehmer.

Federführend bei solchen Disputen sind nicht die großen, traditionsreichen Gewerkschaften, sondern kleinere Organisationen wie die Independent Workers of Great Britain (IWGB). Ihr Präsident Henry Chango Lopez, der vor 18 Jahren aus Ecuador nach Großbritannien kam, arbeitete als Portier bei der University of London. Weil er und seine Kollegen sich von ihrer Gewerkschaft nicht gut repräsentiert fühlten, gründeten sie die IWGB.

Heute zählt die kleine Gewerkschaft 2.500 Mitglieder und vertritt nebst Putz- und Sicherheitspersonal, das bei ausgelagerten Dienstleistern angestellt ist, auch Taxifahrer, Kuriere und Kinderpfleger. Die UPHD, die den Uber-Streik vom Dienstag organisiert hat, hat sich der IWGB ebenfalls angeschlossen. Die Reinigungsleute der University of London erreichten mithilfe der kleinen Gewerkschaft, dass ihnen der Arbeitgeber jetzt Kranken- und Feriengeld sowie eine Pension bezahlt.

Solche Kampagnen haben das Selbstbewusstsein der Angestellten am unteren Ende der Lohnpyramide gestärkt. Und immer häufiger koordinieren die Streikenden verschiedener Branchen ihre Aktionen, insbesondere in der Gig Economy. So bauen sie nach und nach eine kollektive Kraft auf. Der Druck auf die digitalen Plattformen steigt

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