Es regnet alte Frauen und Stöcke - so sagt man in Wales, wenn es schüttet. Der Labour-Politiker Martin Eaglestone schwingt seinen zu kleinen Schirm und deutet in der High Street auf ein prächtiges rotes Gebäude: "Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, für was das Geld der Europäischen Union verwendet wird", sagt er.
Das rote Gebäude steht im Zentrum von Merthyr Tydfil, einer kleinen Stadt in den Hügeln von Südwales, eine Stunde Zugfahrt von Cardiff entfernt. Es ist das ehemalige Rathaus, das jahrelang leer stand und 2014 als Kulturzentrum neu eröffnet wurde - unter anderem mit Fördermitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE). Auch andere Projekte in der Stadt wurden mithilfe von EU-Geld gebaut: ein brandneues College, eine Brücke und der Marktplatz. Mehrere Initiativen helfen außerdem jungen Menschen, einen Job zu finden.
Südwales ist eine der strukturschwächsten Regionen Europas. Die Kommunen sind arm, überdurchschnittlich viele Anwohner bekommen Sozialleistungen. Und gleichzeitig ist Südwales der Landstrich Großbritanniens, den die EU am stärksten finanziell unterstützt. Seit 2014 hat Wales 1,4 Milliarden Pfund aus Brüssel erhalten.
Dieser Geldfluss aus Brüssel wird bald versiegen, denn so wollte es die Mehrheit der Anwohner. Merthyr Tydfil hat für den Brexit gestimmt, mehr als 56 Prozent waren für den Austritt aus der EU. In den umliegenden Tälern sieht es ähnlich aus.
Eaglestone zählt zur Minderheit der EU-Freunde in der Region, genau wie seine Chefin Dawn Bowden, die für die Labour-Partei im walisischen Regionalparlament sitzt. Die beiden fürchten, dass es nach dem Brexit für Merthyr hart wird. "Die EU hat viel Geld in diese Kommunen gesteckt", sagt Bowden. Ob die Regierung in London das auch künftig tun wird, sei ungewiss.
Im Zentrum von Merthyr finden sich etliche Pfandleihgeschäfte, Secondhandläden, Kreditverleiher und Wettbüros, daneben einige verbarrikadierte Shops - ein Straßenbild, wie man es in den verarmten Gegenden Großbritanniens oft sieht. Vor dem Laden der Heilsarmee erzählt Steven Bishop, einer, der für den Brexit gestimmt hat, er bereue das nicht. "Es wird hoffentlich besser werden", sagt der 50-Jährige. Sollte es noch ein EU-Referendum geben, wählte Bishop wieder den Ausstieg: "Die EU war schon immer etwas für die Reichen."
Bishop erinnert sich noch an bessere Zeiten: Als die Region vom Bergbau lebte, gab es sichere und ordentlich bezahlte Jobs. Südwales war eines der wichtigsten Zentren der britischen Kohleindustrie. Er selbst ging mit 14 Jahren unter Tage, Tausende machten es ebenso.
Eisen, Stahl und Bergbau – darauf gründete Merthyr Tydfil seit Beginn der industriellen
Revolution. Lange bestimmten diese drei die Identität der Stadt, die einst größte von Wales. In den
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Industriezweige langsam nieder, den
Todesstoß versetzte ihnen Margaret Thatcher in den achtziger Jahren. Als der Finanzmarkt in London der wichtigste Treiber der
britischen Wirtschaft wurde, machten Kohleminen und
Stahlwerke dicht.
Die
Miners’ Hall von Merthyr sieht aus wie ein Denkmal dieses Niedergangs: eine
überwucherte Ruine ohne Dach, ohne Zweck. Mal diente sie als Nachtclub, mal als Pub, aber seit mehr als 20 Jahren steht
sie leer und verfällt. Die Folgen der Deindustrialisierung sind in Wales überall zu sehen.
"Dies ist eine
stereotypische postindustrielle Stadt", sagt Labour-Politikerin Bowden.
Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählen heute der Einzelhandel,
vor allem die großen Einkaufszentren und der öffentliche Sektor. "Aber
in Bezug auf die Beschäftigung vermochte nichts davon die
Schwerindustrie zu
ersetzen", sagt sie. Der Großteil der heutigen Jobs sei schlecht bezahlt
und
unsicher.
Arm sein, obwohl man einen Job hat, das ist ein Problem im ganzen Land. Eine Studie der
Universität Cardiff hat errechnet, dass rund 60 Prozent der
Menschen, die von Armut betroffen sind, in einem Haushalt leben, in dem
mindestens eine Person arbeitet.
Von London ignoriert
In
den vergangenen drei Jahren schwelgte London im Boom der Finanzbranche
und die dortigen Politikerinnen und Politiker hatten wenig Lust, sich
mit den Problemen der ehemaligen
Industriegebiete auseinanderzusetzen. Seit 2001 wurden zwar rund 300
Millionen Pfund ausgegeben, um die wirtschaftlich
benachteiligten Kommunen von Wales zu stützen. Einen Effekt hatte das
aber nicht – es war viel zu wenig Geld.
Das Leave-Votum
sei in erster Linie ein Protest
gegen diese soziale Not gewesen, sagt Labour-Politikerin Bowden, auch
wenn die EU dafür kaum verantwortlich zu machen war. "Die Leute dachten:
Was wir bisher hatten,
hat nicht funktioniert, also versuchen wir etwas anderes. Ihnen war
nicht klar, dass es ohne die EU und ihre Investitionen schlimmer werden
könnte."
Auch die Angst vor
Einwanderern spielte eine Rolle: In den Niedriglohnjobs in den
Warenhäusern oder in der Nahrungsmittelverarbeitung sind viele Migranten
aus Polen und Portugal beschäftigt; wie in vielen anderen Teilen des
Landes entstanden Befürchtungen, sie nähmen den Einheimischen die Jobs
weg. Mit einem Votum
für den Brexit, so hofften viele, ließe sich die Einwanderung
reduzieren.
Ein Denkmal des Niedergangs
Für viele
Brexit-Befürworter spielte bei der Wahl auch das Gefühl eine Rolle,
nicht mehr wahrgenommen zu werden. Der ehemalige Bergarbeiter Bishop
teilt das. Die Sorge, keine Kontrolle über die Institutionen zu haben,
die das eigene Leben bestimmen, bezieht sich
sowohl auf die Regionalregierung in Cardiff und die Zentralregierung in
London
als auch auf die EU-Institutionen in Brüssel.
Dabei gerät aus dem Blick, dass es in erster Linie in der Verantwortung Londons läge, eine Regionalpolitik zu betreiben, die die deindustrialisierten Täler von Wales in die Volkswirtschaft einbindet.
Das Geld aus Brüssel konnte die Versäumnisse Londons zwar zum Teil kompensieren, aber keine Wunder vollbringen. In Blaenau Gwent etwa, dem benachbarten Tal, das in der Region am deutlichsten für den Brexit gestimmt hatte, hat die Zahl der Arbeitsplätze trotz der 16 Jahre Strukturförderung durch die EU abgenommen, das durchschnittliche Einkommen ist um 71 Pfund pro Woche geringer als Anfang des Jahrtausends. Die finanzielle Unterstützung der EU sei zu dürftig, als dass sie die immensen Verwerfungen der Deindustrialisierung wettmachen könnte, befindet der walisische Thinktank Bevan Foundation in einer Studie.
An der EU-kritischen Haltung der meisten Anwohner hat sich
seit dem Referendum wenig geändert. Zwar legen neuere landesweite Umfragen
nahe, dass eine bedeutende Zahl von Briten lieber in der EU bleiben will, aber
in Merthyr Tydfil und den Tälern von Südwales ist von diesem Trend wenig zu spüren.
Die chaotische Regierungsführung Theresa Mays, ihre Unfähigkeit, klare
Brexit-Ziele vorzugeben, ihre Unbeholfenheit in den Verhandlungen – all das
kümmert die Leute hier wenig. Zu groß ist die Distanz zur Hauptstadt, zu tief
sitzt die Frustration über die jahrzehntelange Vernachlässigung durch London.
Eine eher EU-freundliche Jugend
Die eindringlichen Warnungen vor den Folgen des
EU-Austritts, die man aus London vernimmt, sind zuweilen kontraproduktiv.
Joss Daye beispielsweise, ein junger Musiker aus dem Nachbartal, hat seine
Meinung geändert: Er hatte gegen den Brexit gestimmt, ist aber mittlerweile
kritischer geworden – und zwar, weil ihm die Warnungen der großen Unternehmen
suspekt sind: "Am lautesten beklagen sich die Konzerne über den Brexit.
Da denke ich mir: Dann muss ja daran etwas gut sein."
Labour-Politikerin Bowden setzt ihre Hoffnung auf die jungen Leute. Wie
überall im Land haben die älteren
Briten auch in Wales in Scharen für den Brexit gestimmt, während die Jugend eher EU-freundlich ist.
Sollte es zu einem zweiten Referendum kommen, sagt Bowden, gingen mehr Vertreter der jüngeren Generation ins Wahllokal als beim ersten Mal, das könnte den Ausschlag geben. Eine solche Abstimmung will Theresa May allerdings auf jeden Fall verhindern.
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