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Peter Stäuber

Freier Journalist, London

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Reportage

Brexit: Die EU ist schuld

Es regnet alte Frauen und Stöcke - so sagt man in Wales, wenn es schüttet. Der Labour-Politiker Martin Eaglestone schwingt seinen zu kleinen Schirm und deutet in der High Street auf ein prächtiges rotes Gebäude: "Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, für was das Geld der Europäischen Union verwendet wird", sagt er.

Das rote Gebäude steht im Zentrum von Merthyr Tydfil, einer kleinen Stadt in den Hügeln von Südwales, eine Stunde Zugfahrt von Cardiff entfernt. Es ist das ehemalige Rathaus, das jahrelang leer stand und 2014 als Kulturzentrum neu eröffnet wurde - unter anderem mit Fördermitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE). Auch andere Projekte in der Stadt wurden mithilfe von EU-Geld gebaut: ein brandneues College, eine Brücke und der Marktplatz. Mehrere Initiativen helfen außerdem jungen Menschen, einen Job zu finden.

Südwales ist eine der strukturschwächsten Regionen Europas. Die Kommunen sind arm, überdurchschnittlich viele Anwohner bekommen Sozialleistungen. Und gleichzeitig ist Südwales der Landstrich Großbritanniens, den die EU am stärksten finanziell unterstützt. Seit 2014 hat Wales 1,4 Milliarden Pfund aus Brüssel erhalten.


Kein EU-Geld mehr nach dem Brexit

Dieser Geldfluss aus Brüssel wird bald versiegen, denn so wollte es die Mehrheit der Anwohner. Merthyr Tydfil hat für den Brexit gestimmt, mehr als 56 Prozent waren für den Austritt aus der EU. In den umliegenden Tälern sieht es ähnlich aus.

Eaglestone zählt zur Minderheit der EU-Freunde in der Region, genau wie seine Chefin Dawn Bowden, die für die Labour-Partei im walisischen Regionalparlament sitzt. Die beiden fürchten, dass es nach dem Brexit für Merthyr hart wird. "Die EU hat viel Geld in diese Kommunen gesteckt", sagt Bowden. Ob die Regierung in London das auch künftig tun wird, sei ungewiss.

Im Zentrum von Merthyr finden sich etliche Pfandleihgeschäfte, Secondhandläden, Kreditverleiher und Wettbüros, daneben einige verbarrikadierte Shops - ein Straßenbild, wie man es in den verarmten Gegenden Großbritanniens oft sieht. Vor dem Laden der Heilsarmee erzählt Steven Bishop, einer, der für den Brexit gestimmt hat, er bereue das nicht. "Es wird hoffentlich besser werden", sagt der 50-Jährige. Sollte es noch ein EU-Referendum geben, wählte Bishop wieder den Ausstieg: "Die EU war schon immer etwas für die Reichen."

Bishop erinnert sich noch an bessere Zeiten: Als die Region vom Bergbau lebte, gab es sichere und ordentlich bezahlte Jobs. Südwales war eines der wichtigsten Zentren der britischen Kohleindustrie. Er selbst ging mit 14 Jahren unter Tage, Tausende machten es ebenso.

Eisen, Stahl und Bergbau – darauf gründete Merthyr Tydfil seit Beginn der industriellen Revolution. Lange bestimmten diese drei die Identität der Stadt, die einst größte von Wales. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Industriezweige langsam nieder, den Todesstoß versetzte ihnen Margaret Thatcher in den achtziger Jahren. Als der Finanzmarkt in London der wichtigste Treiber der britischen Wirtschaft wurde, machten Kohleminen und Stahlwerke dicht.

Die Miners’ Hall von Merthyr sieht aus wie ein Denkmal dieses Niedergangs: eine überwucherte Ruine ohne Dach, ohne Zweck. Mal diente sie als Nachtclub, mal als Pub, aber seit mehr als 20 Jahren steht sie leer und verfällt. Die Folgen der Deindustrialisierung sind in Wales überall zu sehen.

"Dies ist eine stereotypische postindustrielle Stadt", sagt Labour-Politikerin Bowden. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählen heute der Einzelhandel, vor allem die großen Einkaufszentren und der öffentliche Sektor. "Aber in Bezug auf die Beschäftigung vermochte nichts davon die Schwerindustrie zu ersetzen", sagt sie. Der Großteil der heutigen Jobs sei schlecht bezahlt und unsicher.

Arm sein, obwohl man einen Job hat, das ist ein Problem im ganzen Land. Eine Studie der Universität Cardiff hat errechnet, dass rund 60 Prozent der Menschen, die von Armut betroffen sind, in einem Haushalt leben, in dem mindestens eine Person arbeitet.


Von London ignoriert

In den vergangenen drei Jahren schwelgte London im Boom der Finanzbranche und die dortigen Politikerinnen und Politiker hatten wenig Lust, sich mit den Problemen der ehemaligen Industriegebiete auseinanderzusetzen. Seit 2001 wurden zwar rund 300 Millionen Pfund ausgegeben, um die wirtschaftlich benachteiligten Kommunen von Wales zu stützen. Einen Effekt hatte das aber nicht – es war viel zu wenig Geld.

Als die konservative Regierung 2010 dann ein rigoroses Sparprogramm verkündete, Sozialausgaben gekürzt und Stellen im öffentlichen Sektor gestrichen wurden, waren arme Gebiete wie die Täler von Südwales davon am stärksten betroffen.

Das Leave-Votum sei in erster Linie ein Protest gegen diese soziale Not gewesen, sagt Labour-Politikerin Bowden, auch wenn die EU dafür kaum verantwortlich zu machen war. "Die Leute dachten: Was wir bisher hatten, hat nicht funktioniert, also versuchen wir etwas anderes. Ihnen war nicht klar, dass es ohne die EU und ihre Investitionen schlimmer werden könnte."

Auch die Angst vor Einwanderern spielte eine Rolle: In den Niedriglohnjobs in den Warenhäusern oder in der Nahrungsmittelverarbeitung sind viele Migranten aus Polen und Portugal beschäftigt; wie in vielen anderen Teilen des Landes entstanden Befürchtungen, sie nähmen den Einheimischen die Jobs weg. Mit einem Votum für den Brexit, so hofften viele, ließe sich die Einwanderung reduzieren.

Ein Denkmal des Niedergangs

Für viele Brexit-Befürworter spielte bei der Wahl auch das Gefühl eine Rolle, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Der ehemalige Bergarbeiter Bishop teilt das. Die Sorge, keine Kontrolle über die Institutionen zu haben, die das eigene Leben bestimmen, bezieht sich sowohl auf die Regionalregierung in Cardiff und die Zentralregierung in London als auch auf die EU-Institutionen in Brüssel.

Dabei gerät aus dem Blick, dass es in erster Linie in der Verantwortung Londons läge, eine Regionalpolitik zu betreiben, die die deindustrialisierten Täler von Wales in die Volkswirtschaft einbindet.

Das Geld aus Brüssel konnte die Versäumnisse Londons zwar zum Teil kompensieren, aber keine Wunder vollbringen. In Blaenau Gwent etwa, dem benachbarten Tal, das in der Region am deutlichsten für den Brexit gestimmt hatte, hat die Zahl der Arbeitsplätze trotz der 16 Jahre Strukturförderung durch die EU abgenommen, das durchschnittliche Einkommen ist um 71 Pfund pro Woche geringer als Anfang des Jahrtausends. Die finanzielle Unterstützung der EU sei zu dürftig, als dass sie die immensen Verwerfungen der Deindustrialisierung wettmachen könnte, befindet der walisische Thinktank Bevan Foundation in einer Studie.

An der EU-kritischen Haltung der meisten Anwohner hat sich seit dem Referendum wenig geändert. Zwar legen neuere landesweite Umfragen nahe, dass eine bedeutende Zahl von Briten lieber in der EU bleiben will, aber in Merthyr Tydfil und den Tälern von Südwales ist von diesem Trend wenig zu spüren.

Die chaotische Regierungsführung Theresa Mays, ihre Unfähigkeit, klare Brexit-Ziele vorzugeben, ihre Unbeholfenheit in den Verhandlungen – all das kümmert die Leute hier wenig. Zu groß ist die Distanz zur Hauptstadt, zu tief sitzt die Frustration über die jahrzehntelange Vernachlässigung durch London.

Eine eher EU-freundliche Jugend

Die eindringlichen Warnungen vor den Folgen des EU-Austritts, die man aus London vernimmt, sind zuweilen kontraproduktiv. Joss Daye beispielsweise, ein junger Musiker aus dem Nachbartal, hat seine Meinung geändert: Er hatte gegen den Brexit gestimmt, ist aber mittlerweile kritischer geworden – und zwar, weil ihm die Warnungen der großen Unternehmen suspekt sind: "Am lautesten beklagen sich die Konzerne über den Brexit. Da denke ich mir: Dann muss ja daran etwas gut sein."

Labour-Politikerin Bowden setzt ihre Hoffnung auf die jungen Leute. Wie überall im Land haben die älteren Briten auch in Wales in Scharen für den Brexit gestimmt, während die Jugend eher EU-freundlich ist.

Sollte es zu einem zweiten Referendum kommen, sagt Bowden, gingen mehr Vertreter der jüngeren Generation ins Wahllokal als beim ersten Mal, das könnte den Ausschlag geben. Eine solche Abstimmung will Theresa May allerdings auf jeden Fall verhindern.



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Erstellt am 25.01.2018
Bearbeitet am 25.01.2018

Quelle
http://www.zeit.de/wirtschaft/2018-...

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großbritannien wirtschaft europäische union bergbau wales brexit kohleindustrie
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