Die britische Antwort auf die Flüchtlingskrise ist ziemlich klar: Abschottung und Ablehnung. Aber ein Besuch in Spitalfields zeigt, dass das Land immer wieder grosse Zahlen von Immigranten absorbieren konnte.
Stau in der Fournier Street. Ein Mann steigt aus seinem Lieferwagen und geht mit wuchtigen Schritten auf die Arbeiter zu, die bedächtig Kisten aus einem Lastwagen zum Gehsteig befördern und die schmale Strasse versperren. Der Mann beginnt auf die Arbeiter einzureden, flucht viel, gestikuliert, beeindruckt aber keinen. Er stapft zurück zum Auto, vorbei an ein paar Muslimen mit Gebetskappen, die aus dem Seiteneingang der Jamme-Masjid-Moschee getreten sind. Einer lehnt gegen die Wand und beginnt zu rauchen, neben ihm das Schild: "Brick Lane Muslim Funeral Services". Weiter oben am Gebäude, über der Sonnenuhr im Dachgiebel, ein anderes Memento an die Vergänglichkeit: Umbra sumus, steht dort, wir sind Schatten.
"Froschplage" aus FrankreichDie frommen Hugenotten, die das Haus im 18. Jahrhundert als Kapelle errichteten und das Zitat von Horaz verewigten - "Staub und Schatten sind wir", schrieb der römische Dichter -, erinnerten sich gern an ihre Sterblichkeit. Heute jedoch fällt vor allem auf, wie lange ihr Erbe in Spitalfields fortdauert. Das Quartier im Osten Londons ist seit über drei Jahrhunderten ein Auffangbecken für Neuankömmlinge, die hier in Wellen eintrafen: französische Protestanten, Juden aus Osteuropa und Russland, Iren und Bangalen. Unweit der Docks und ausserhalb des historischen Stadtkerns liessen sie sich nieder, Aussenseiter, die in die britische Gesellschaft schmelzen wollten. Viele zogen weiter, aber alle hinterliessen Spuren, die der heutige Besucher in Spitalfields vorfindet: hugenottische Backsteinhäuser; stets geöffnete Bagel-Shops, die hier Beigel-Shops heissen, nach der jiddischen Schreibweise; eine Reihe bangalischer Restaurants, von denen offenbar alle eine Auszeichnung für ihre Kochkunst gewonnen haben.
In der derzeitigen Flüchtlingskrise versucht sich die britische Regierung in erster Linie durch grobe Rhetorik über die Gefahren der Einwanderung zu profilieren und konsequenterweise auch durch die Verstärkung der Grenzzäune am Eurotunnel. Die Innenministerin Theresa May spricht vom "nationalen Zusammenhalt", den sie durch übermässige Einwanderung bedroht sieht.
Spitalfields, so scheint es, hat in den vergangenen dreihundert Jahren recht gut zusammengehalten, obwohl jeder Einwanderergruppe ein ähnlich unheilvoller Einfluss unterstellt wurde. An einer Strasse unweit der Moschee steht ein Haus, in dem sich diese Geschichte der Immigration mit den Händen fassen lässt. Princelet Street Nummer 19 ist von aussen schlicht und unscheinbar, nur das schwarze Holztor deutet darauf hin, dass man eine andere Epoche betritt. Drinnen ist es kalt und verstaubt. Der Verputz bröckelt, die Decke wird von einem Stahlgerüst abgestützt, auf einer alten Holzbank liegt eine kaputte Wanduhr. Jahrelang war der Bau leer und verwahrlost, mittlerweile steht er unter Denkmalschutz und beherbergt ein Museum der Einwanderung. Renovationen sind jedoch noch kaum vorgenommen worden. Das Museum ist das Haus selbst: Es hat die Geschichte der Immigration in sich aufgenommen. In einem Alkoven ist derselbe Satz in Dutzenden Sprachen mit Kreide geschrieben worden, auch auf Deutsch: "Hören Sie dem Gebäude zu."
Die Leute, die das Haus 1719 errichteten, gehörten zur ersten grossen Einwanderergruppe im modernen England, "Masseneinwanderung" würde man heute vielleicht sagen. Zehntausende Protestanten, die Schutz suchten vor religiöser Verfolgung in Frankreich, bauten sich hier ihre neue Heimat auf. Sie brachten nicht nur ihre Fingerfertigkeit mit - die Hugenotten waren Meister der Seidenweberei -, sondern erweiterten das Englische um ein neues Wort: refugee.
Ein Parlamentsabgeordneter hingegen hatte einen anderen Namen für sie: Er bezeichnete die Hugenotten als eine "Froschplage", mit der entsprechend verfahren werden soll. Auch die Zünfte beschwerten sich - die ausländische Konkurrenz betreibe Lohndumping und halte sich nicht an die Konventionen der englischen Seidenweber. Die Eingewanderten mussten weitgehend ohne Hilfe der Engländer weiterkommen, aber sie kamen weiter, nicht nur im Textilhandel, sondern auch in der aufkommenden Geldwirtschaft: Unter den Gründern der Bank of England etwa fanden sich zahlreiche Hugenotten.
"Spitalfields ist ein physischer Ort, aber auch ein psychologischer und ein sozialer Raum", sagt Susie Symes, Vorsitzende des Museums. "Es repräsentiert den Übergang vom Fremden zum Bürger." Für die osteuropäischen Juden, die Ende des 19. Jahrhunderts in den Londoner Docks ankamen - viele auf der Flucht vor Pogromen, andere wegen der wirtschaftlichen Möglichkeiten -, war der Übergang oft noch schwieriger als für die Hugenotten. Hatten die Franzosen äusserlich so ausgesehen wie die Engländer, hoben sich die Juden schon durch ihre Kleidung von den Einheimischen ab. Viele waren arm und verzweifelt, sprachen kein Englisch und wären sowieso lieber nach New York weitergereist, wenn sie Geld gehabt hätten. Und vielen Engländern hätte das gerade gut gepasst.
Aber sie machten Spitalfields zu ihrem Zuhause, auch 19 Princelet Street wurde von Juden bezogen. Der Garten, in dem einst die Kinder der Seidenhändler gespielt hatten, wurde 1869 zu einer Synagoge umgebaut, die zweitälteste Londons, die heute noch genauso aussieht wie damals. Durch farbige Fenster im Dach fällt das Licht auf einen langen Raum mit einer Galerie, die durch dünne, geschwungene Säulen abgestützt wird. An der hölzernen Wand sind Texte auf Englisch und Hebräisch eingraviert, Erinnerungen an eine Spende für eine Hochzeit, eine Geburt, einen Todesfall.
Spitalfields bildete damals einen Teil des Londoner East End, arm und überfüllt, schmutzig, gefährlich - wenige hundert Meter von der Princelet Street entfernt fand man 1888 die Leiche von Annie Chapman, dem zweiten Opfer von Jack the Ripper. "Wegen der überfüllten Haushalte waren Gemeinderäume enorm wichtig", sagt Symes. "Und so grub man unter der Synagoge einen Keller, der etwas mehr Raum bot für gemeinschaftliche Aktivitäten."
Der Gemeinderaum nahm Anfang der 1930er Jahre eine besondere Bedeutung an: Hier trafen sich Aktivisten, um den Widerstand gegen die British Union of Fascists von Oswald Mosley zu organisieren. "Juden und irische Arbeiter - Gruppen, die sich nicht besonders mochten - fanden sich hier zusammen, um den Faschismus gemeinsam zu bekämpfen", erzählt Susie Symes. Die grösste Konfrontation kam 1936: In der Cable Street lieferten sich Anwohner irischer und jüdischer Abkunft, Kommunisten und Anarchisten eine Strassenschlacht mit der Polizei und den Faschisten - Mosleys Blackshirts wurden in die Flucht geschlagen. "Auch das muss man einmal sagen: Das East End war einer der wenigen Orte in Europa, in denen der Faschismus tatsächlich besiegt wurde", sagt Symes.
Von Kindern gestaltetHeute beherbergt 19 Princelet Street Europas erstes Museum der Einwanderung. Die derzeitige Ausstellung, "Suitcases and Sanctuary" (Koffer und Zuflucht), wurde von Schülerinnen und Schülern lokaler Primarschulen gestaltet: Kinder bangalischer Abstammung stellen sich vor, wie die Hugenotten, die Iren und die Juden das East End erlebten, wie sie von "denen" zu "uns" wurden, wie Susie Symes sagt: "Die ewige Geschichte der Einwanderung."