Das pralle Leben zwischen Oslo und Mailand? Die Arte-Doku "24 Stunden Europe" soll echte Menschen auf dem ganzen Kontinent zeigen - es werden aber doch nur Beispiele für Reizthemen aufgefahren. Von Peter Luley
Dutzende Kamerateams begleiten ebenso viele Menschen durch den Tag - und aus der so generierten Materialfülle wird eine 24-stündige Collage montiert. Heißt: Was um 15 Uhr passiert ist, wird auch um 15 Uhr gesendet. So funktioniert das Prinzip der Echtzeitdoku, das der Regisseur Volker Heise und der Produzent Thomas Kufus ersonnen haben. 2009 realisierten sie mit "24h Berlin" ihren ersten Marathon dieser Art, 2014 folgte "24h Jerusalem". Mit "24h Europe" legen sie nun noch eine Schippe drauf: Diesmal soll gleich ein ganzer Kontinent abgebildet werden.
Kurz vor der Europawahl, in Zeiten von Brexit und erstarkendem Nationalismus in vielen Ländern erscheint das schlüssig und begrüßenswert: Was läge näher, als dass der europäische Kulturkanal Arte in Kooperation mit mehreren weiteren Sendern ein Manifest der Vielfalt präsentiert? Die logistischen Kennzahlen klingen wie gewohnt imposant: 60 Protagonisten zwischen 18 und 30 Jahren wurden im Juni 2018 von 45 Teams aus 26 Ländern begleitet; dazu verströmt der Untertitel "The Next Generation" optimistisch Zukunftsfähigkeit.
Allein: Anders als bei den Städteporträts springt der Funke hier nicht über, das Konzept vom großen Ganzen aus vielen kleinen Geschichten funktioniert nicht mehr. Schließlich greift auch nicht mehr der Leitsatz "Maximale Verschiedenheit auf engstem Raum". Jetzt müsste es "Maximale Verschiedenheit auf riesigem Raum" heißen.
Schnipselparade
Zwar wird zwischendurch immer wieder eine Europakarte mit pulsierenden Positionspunkten eingeblendet, und der Off-Kommentar liefert Informationen über Sprachen und Länder. Aber das erzeugt kein überwölbendes Identitäts- oder Heimatgefühl; eher schon stellt sich beim Anschauen dreier vorab zur Verfügung gestellter Stunden der Eindruck ein, die Protagonisten seien exemplarisch für Problemlagen und Reizthemen gecastet worden. Wirklich nah kommt man ihnen in der mit viel Musik unterlegten Schnipselparade (künstlerische Leitung: Britt Beyer) auch nicht.
Zwischen elf und zwölf Uhr vormittags folgt der Film u. a. dem muslimischen Kurierfahrer Ibrahim in Südfrankreich, der sich selbst als Salafisten bezeichnet und am Steuer sitzend ausführt, dass der Schöpfer nun mal eine Hierarchie bestimmt habe, wonach der Mann der Herr im Haus sei. Im belgischen Namur wird parallel die Priesterweihe eines Ex-Soldaten vorbereitet. Und in Triest verteilt ein Rechtsextremist der Forza Nuova Lebensmittel an bedürftige italienische Rentner, die sich mit einer Suada gegen Flüchtlinge aus Afrika revanchieren.
Von der norwegischen Überlebenden des Utøya-Massakers, die in einer Gedenkstätte in Oslo vor Schülern spricht, geht es im fliegenden Wechsel ins tschechische Pardubice, wo sich eine angehende Dirigentin am Konservatorium sexistische Sprüche ihres Dozenten anhören muss. Im nordfinnischen Livantiira telefoniert derweil ein einsilbiger Naturfotograf mit seiner Mutter, die ihn mehrfach ermahnt, sich eine Fleischsuppe zu kochen - was immerhin für ein bisschen Comic Relief sorgt.
Ach Europa, gibt es denn wirklich keinen Trost?
Der frühe Nachmittag führt dann auf ein Gaming-Event ins schwedische Jönköping, wo eine Mädchengruppe im Ego-Shooter-Spiel "Overwatch" reüssieren will. Die 15-jährige Jagoda bereitet sich im polnischen Karpatenvorland auf ein paramilitärisches Jugendcamp vor. Ein Mukoviszidose-Patient in Mailand muss inhalieren und abhusten. Und dann sind da noch der bleiche Stahlarbeiter im russischen Magnitogorsk, der sich nach Feierabend tätowieren lässt, und die Berliner YouTuberin und Influencerin Candy Crash, die sich für ihren Drag-Look die Augenbrauen abklebt und sich beim Rasieren in den Fingernagel schneidet.
Ach, Arte, ach Europa, möchte man da irgendwann seufzen - gibt es denn wirklich keinen Trost? "Dem Casting der Protagonisten wurden Zukunftsthemen und Megatrends zugrunde gelegt", heißt es im Pressetext des ebenfalls beteiligten BR, und weiter: "Jeder Protagonist wurde auch ausgewählt, um diese Themen zu vertreten, die im Mittelpunkt der europäischen Verheißung und Debatte stehen."
Als anthropologisches Panoptikum mag das Ganze ja noch durchgehen. Die Verheißung aber ist leider etwas kurz gekommen. Oder liegt sie in den Worten der ungarischen Aussteigerin Domenika? Sie jedenfalls geht schlafen, wenn die Sonne sinkt, und wünscht sich, dass mehr Menschen Kühe melken.
"24h Europe - The next generation", Samstag, ab 6.00 Uhr, zeitgleich auf Arte, im RBB und bei ARD-alpha; in Teilen auch in SWR und BR. Nach Ausstrahlung 60 Tage in der Arte-Mediathek verfügbar.
Zum Original