In ihrem herausragenden Kinodebüt "Sommerhäuser" versammelt Sonja Maria Kröner drei Generationen in einem großen Gemeinschaftsgarten. Ist dieser ein "kleines Paradies"? Oder doch eher Familienhölle? Von Peter Luley
Alles weist aufs Jahr 1976 hin: Auf der Straße Plakate aus dem Bundestagswahlkampf zwischen Schmidt und Kohl zu erkennen. Radio-Nachrichten zur extremen Hitzewelle in Deutschland (gab es damals) und Kommentare zur Überlegenheit der DDR gegenüber der BRD bei den Olympischen Spielen (Medaillenbilanz in Montreal: 90 zu 39).
Abgesehen von dieser zeitlichen Verortung - und einer lokalen in Bayern, nahe München - spielt "Sommerhäuser" allerdings in einem völlig eigenen, von der Außenwelt nahezu abgeriegelten Mikrokosmos: einem Ferienhaus-Ensemble mit großem Gemeinschaftsgarten.
Dort treffen sich nach dem Tod von (Ur-)Oma Sophie, der das Grundstück gehörte, drei Generationen einer Familie. Da sind zunächst Sophies schon sehr seniorige direkte Nachkommen Mathilde (Inge Maux), Ilse (Ursula Werner) und Erich (Günther Maria Halmer) sowie dessen Frau Frieda (Christine Schorn). Und dann die Kinder von Erich und Frieda samt Nachwuchs: Sohn Bernd (Thomas Loibl) mit Frau Eva (Laura Tonke) und ihren Kindern Lorenz und Jana sowie die alleinerziehende Tochter Gitti (Mavie Hörbiger) mit Nesthäkchen Inga.
Und nur dort erzählt Kinodebütantin Sonja Maria Kröner (Buch und Regie) ihre Geschichte, wobei "Geschichte" nicht ganz das richtige Wort ist. Ein Gewitter mit Blitzeinschlag in einen alten Baum steht am Anfang des Films, ein Gewitter steht auch an seinem Ende. Dazwischen liegen Charakterzeichnungen, brillant beobachtete archetypische Verhaltensweisen, Splitter des Lebens.
Schwül, nah an Natur und Kreatur ist dieser Garten - und ein Abenteuerspielplatz für die Kinder. Ein schlüssiges Stilmittel ist es daher, dass die Regisseurin im Rahmen vieler beiläufiger Perspektivwechsel oft auch die Sicht der Kinder einnimmt. Wie ein unsichtbarer Gast in ihrer Truppe bewegt sich die Kamera über das Terrain. Sie folgt den Expeditionen der Kinder auf das verwunschene Nachbargrundstück, wo seltsame Voodoo-Puppen eines verschrobenen Künstlers hängen, zeigt, wie sie sich im Baumhaus, mit Walkie-Talkies und Wasserpistolen vergnügen oder auch mit Milch, Keksen und Gummibärchen unter dem Tisch der Erwachsenen sitzen, weil sie gerade Hunde spielen. Die nackten alten Beine, auf die sie dabei gucken, zeigt die Kamera übrigens auch, so viel Wahrhaftigkeit muss sein.
Sonnenbad ohne Gebiss
Von den Hüpfbällen bis zur Wasserrutsche, von der Erdbeerrolle bis zum Frankfurter Kranz stimmt hier wirklich jedes Detail. Wer in den Siebzigern selbst Kind war, fängt förmlich an, die Erde zu riechen, wenn Tante Ilse Blumen pflanzt. Oder die leichte Muffigkeit der Innenräume, wenn sie die Schränke aufräumt.
Während die Kinder mit Kreide an einer Holzwand eine Strichliste führen (und fälschen), wer die meisten Wespen getötet hat, sind die stechfreudigen Insekten überdies eine passende Metapher für die vielen Sticheleien unter den Erwachsenen: Ein Verkauf des Grundstücks liegt in der Luft, wird aber nicht offen thematisiert. Man belauert und belauscht sich, schwelende Konflikte um das Erbe treten zutage.
Vor allem Erichs Frau will den Verkauf vorantreiben; ihr Mann hält sich wie immer raus, und seine Schwestern geben sich ablehnend, sind aber auch mit sich selbst beschäftigt. Verdrängung statt Kommunikation scheint die oberste Maxime zu sein. Tante Ilse, grandios gespielt von Ursula Werner (" Wolke 9", " Halt auf freier Strecke"), trägt auf einmal Lippenstift auf und erlebt einen scheuen Flirt mit der Nachbarin; Tante Tilda legt sich schamlos nackt zum Sonnenbaden, nicht ohne sich vorher neben ihrer Kleidung auch ihres Gebisses entledigt zu haben.
Ist der Nachbar ein Kannibale?
Richtig knistern lassen es Mavie Hörbiger und Laura Tonke als konkurrierende Mütter - die eine unter dem Fehlen des Kindsvaters leidend, die andere sich im familiären Gefüge benachteiligt fühlend. Ihre schnippisch-scharfzüngigen Dialoge stehen im Kontrast zur Maulfaulheit der Männer. "Sag doch auch mal was", fährt Eva ihren Bernd an, einen bärtigen Brummbär, der meist in kurzen Adidas-Trainingshosen rumläuft. Doch als er auf ihr Drängen hin seinen Vater auf die Verkaufspläne anspricht, kommt dabei nur heraus, dass man auf jeden Fall reden würde, wenn es nötig wäre.
Das alles verdichtet sich zur vielschichtigen Schilderung einer Familienhölle im "kleinen Paradies", wie das Grundstück immer wieder gern genannt wird. Die Atmosphäre latenter Bedrohung - Wespen, Motorsägenlärm, das nicht perfekt gesicherte Baumhaus - bekommt noch eine morbide Komponente durch den Kriminalfall eines verschwundenen Mädchens aus der Nachbarschaft, das offenbar von einem Kannibalen verspeist wurde. Könnte nicht der benachbarte Künstler Flachs der Täter sein? Was für ein schaurig-aufregender Gedanke...
In seiner Schonungslosigkeit und gelegentlich schwarzhumorigen Tonalität erinnert "Sommerhäuser" an Frauke Finsterwalders herausragendes Befindlichkeitspuzzle " Finsterworld" - was wohl kein Zufall ist, denn mit Tobias Walker und Philipp Worm teilen sich die Filme dieselben Produzenten. Gleich zwei Preise gewann das Werk beim diesjährigen Filmfest München, wo die Jury zu Recht den "Mut zu entschleunigtem Erzählen" lobte.
Autorin und Regisseurin Sonja Maria Kröner (Jahrgang 1979, geboren in Dießen am Ammersee) gelingt es nicht nur, ganz ohne Effekthascherei und ohne jegliche Musikverkleisterung ein stimmiges Zeitporträt zu erschaffen, sondern auch zeitlos gültige Wahrheiten sichtbar zu machen. So zeigt sie, wie archaisch und gnadenlos familiäre Konflikte sein können. Wenn dann noch Sprachlosigkeit dazukommt, bricht eben irgendwann ein Gewitter los.
Im Video: Der Trailer zu "Sommerhäuser"
"Sommerhäuser", Deutschland 2017. Buch und Regie: Sonja Maria Kröner. Darsteller: Thomas
Loibl, Laura Tonke, Ursula Werner, Günther Maria Halmer, Christine
Schorn, Mavie Hörbiger. Produktion: Walker+Worm Film GmbH, WDR, BR .
Verleih: Prokino Filmverleih GmbH. Länge: 97 Minuten. Start: 26. Oktober
2017
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