Kulinarik verbindet Genuss zuweilen mit Gesinnung. Aber die ?Craft-Beer-Szene Berlins ist zu spannend, um dogmatisch zu sein. Mit einer Übersicht und den besten Adressen für feines Bier aus eigener Herstellung.
Eigentlich möchte ich doch so gerne einfach nur ein Pils trinken", flüstert der Gast beinahe verschämt der Dame an den Zapfhähnen zu. Ungläubige Blicke und hochgezogene Augenbrauen der Umstehenden sind die Folge. Der Mund über dem Hipster-Bart bleibt offen stehen und nicht nur das Bier schäumt, das karierte Flanellhemd daneben verschluckt sich an seinem norwegischen Session IPA und der Zottel auf dem Barhocker wischt sich die Hände am ausgebleichten Stone-Brewing-Shirt ab und verlangt ein Hausverbot für den armen Pils-Trinker. Kulinarik verbindet zuweilen Genuss mit Gesinnung. Je nachdem, wie etwas ausgesprochen wird, kann es köstlich oder kämpferisch klingen: „Vegan!" „Regional!" „Nachhaltig!" Auch bei Bier gilt es, Position zu beziehen. Die Bierflasche als Statement oder Fashion-Accessoire kennt die Spreemetropole schon länger. In den 1990ern erfrischten die Techno-Jünger ihre verschwitzten Körper aus einer Flasche, auf der ein Schwarzwaldmädel mit Tracht und Zopf einen merkwürdigen Kontrast bildete. In den 2000ern hatte es etwas Semi-Intellektuelles, ein Tegernseer oder Augustiner zu ordern. Heute sendet eben ein Double India Pale Ale (IPA) oder ein Jahrgangs-Lambic das Signal, auf dem neuesten Stand der Getränkekultur zu sein. Gepose? Manchmal. Meistens aber großartig, denn endlich wird ein Bier wieder erduftet, verkostet und bewusst ausgewählt. Hier ein Hauch Grapefruit, dort ein Anklang von Kakao. Neben dem Durstlöscher gilt es nun, auch das Genussmittel Bier zu erleben, neu zu entdecken. Der Umgang mit Brauwaren ist in Berlin also im Wandel begriffen. Und das mit rasanter Geschwindigkeit. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass neues Bier gebraut oder ein Brewpub eröffnet wird. Manche befürchten, das Angebot wächst derzeit rasanter als die Nachfrage. „Craft Beer ist in Deutschland ein noch junges Thema. In den USA kamen die kleinen, handwerklichen Brauereien schon um 1980 auf. Warum so verzögert? Eric Ottaway, Geschäftsführer der Brooklyn Brewery, der mit einem Brauereistandort in Prenzlauer Berg liebäugelt: „Das Industriebier in Deutschland ist zu gut. Hier herrschte nie der Leidensdruck durch wässrige Massenbiere, wie es ihn in den USA gab." Nun ist Kreativbier endlich auch hierzulande in Schwung geraten, mit Berlin als Epizentrum. Die Internationalität der Stadt ist dabei sehr hilfreich. Amerikaner, Briten oder Skandinavier sind mit der Vielfältigkeit der Bierstile bereits aus ihren Heimatländern vertraut. Sie fordern und genießen die Ales, Porters und Trappisten mit geschultem Gaumen und Sachverstand. In den relevanten Beer-Bars wird daher auch viel Englisch gesprochen und Bierfreunde scheuen selbst die weitesten Wege nicht, um das Hopfenreich in Kreuzberg, die Monterey Bar in Prenzlauer Berg, das Kaschk in Mitte oder den The Castle Pub am Gesundbrunnen aufzusuchen, der gerade auf stolze 30 Zapfhähne aufgerüstet hat. Auch an den Braukesseln geht es kosmopolitisch zu. Im Wedding brauen drei Amerikaner ihr Vagabund Bier und schenken es im gleichnamigen Pub fröhlich aus. Zwei Lehrer und ein Journalist treffen in Berlin aufeinander und vermissen die Biervielfalt ihrer Heimat: „3,5 Millionen Menschen, aber kein ordentliches Porter oder fruchtig-bitteres India Pale Ale." Sie schaffen selbst Abhilfe und kreieren kühne Biere. Stone Brewing aus Kalifornien investiert derzeit 25 Millionen Dollar in Mariendorf und in wenigen Wochen eröffnet Richard Hodges seine Brauerei Berliner Berg in Neukölln, wo sich der erfahrene Braumeister auch einheimischen Traditionen widmen wird wie der Berliner Weiße. Bewährte Hauptstadtbrauer sind vom Brau-Fieber angesteckt und so widmet sich Brewbaker? Michael Schwab ebenfalls der beinahe ausgestorbenen Berliner Weiße. Thorsten Schoppe gilt als der bewährteste der Berliner Braumeister und von Craft bis konventionell ist bei seinen Bieren für jeden etwas dabei: Brauhaus Südstern, Pfefferbräu, Schoppe Bräu oder Flying Turtle. Ganz neu und eine absolute Probierempfehlung für Einsteiger: Schoppe Bräu Flower Power Session IPA, ein blumig-aromatisches IPA, nur 4,7 Prozent Alkohol, aber voller Geschmack. Längst auch auf internationalem Niveau: die Biere von Johannes Heidenpeter in der Markthalle Neun. Der Quereinsteiger investierte just in weitere Lagertanks und eine Flaschenabfüllanlage. Mit Heidenpeters Pale Ale oder Thirsty Lady begann zuletzt so manche zärtliche Romanze zwischen Lippe und Glas. Am Street Food Thursday kann die zeitgemäße Kombination mit Pulled Pork, Kimchi und veganen Burgern probiert werden. Molle mit Korn in Eckkneipen wie Zur Quelle, Zum Kaputten Heinrich oder im Narkosestübchen mit der Gesellschaft von Stammtischbrüdern und verwelkenden Kiezschönheiten ist Nostalgie, Parallelwelt und Klischee zugleich. Die neuen Genuss-Biere der Bierfabrik, des Spent Braukollektivs oder von Flessa Bräu findet man an Vintage-Tresen, in coolen Bars und sogar in der Spitzengastronomie: Die Weinbar Rutz präsentiert immer wieder Bier-Menüs oder das Restaurant am Steinplatz offeriert neben passenden Weinen zudem eine selbstverständliche Bierbegleitung zum Menü. Bier her!, lautet die aktuelle Devise. Eine fröhliche Gier nach Vielfalt bestimmt den boomenden Enthusiasmus in Berlins Genusswelten. Und IPA sind die drei magischen Buchstaben für alte und neue Insider. Ab und an darf es dann auch wieder ein Pils sein. Peter Eichhorn Andreas Schöttke
Adressen:
Getränke-feinkost Boxhagener Straße 24, Friedrichshain www.getraenkefeinkost.de Heidenpeters Eisenbahnstraße 42-43, Kreuzberg www.heidenpeters.de
Kaschk Linienstraße 40, Mitte