Paula Lochte

Journalistin | Radio, Print & Podcasts, München

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Wie das aktuelle Spiegel-Cover die Realität verzerrt und Ängste schürt

Das Cover des Magazins DER SPIEGEL, Ausgabe vom 22.9.2023, zeigt ein bearbeitetes Foto von Migranten im Hafen von Lampedusa | Bild: Der Spiegel

Das Bild ist gelb eingefärbt. Nicht sonnenuntergangsgelb, sondern gelb wie ein Warnschild. Es zeigt eine Straße am Hafen von Lampedusa. Und die ist voller Menschen. Sie gehen hintereinander und tragen große karierte Taschen auf ihren Schultern: ein Flüchtlingstreck, so lang, dass weder Anfang noch Ende in Sicht sind. Darauf der Schriftzug „Schaffen wir das - noch mal?". „Dieses Cover ist auf ganz verschiedenen Ebenen problematisch", sagt Nadia Zaboura, Kommunikationswissenschaftlerin und Host des Medienpodcasts „quoted". „Gezeigt werden Schwarze Menschen von hinten, ein klassisches Motiv der Depersonalisierung. Das heißt, wir sehen nicht mehr den Menschen, wir sehen nicht, wer da auf der Flucht ist, wir sehen nur noch Massen." Fragwürdig sei auch die Titelfrage, ob wir das noch mal schaffen. Denn, so Zaboura: „Wer versteckt sich eigentlich hinter dem ‚Wir'"?

Wer steckt hinter dem „Wir"?

Und wer sind dann „Die Anderen"? Das aktuelle Cover vom Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL hat Nadia Zaboura so wütend gemacht, dass sie dem Verlag schreiben will. Und sie ruft andere auf, es ihr gleich zu tun. In den sozialen Medien stößt sie damit auf offene Ohren, denn eine Reihe von Intellektuellen, Medienschaffenden und Aktivist:innen kritisiert dort gerade das Cover aus ganz ähnlichen Gründen wie Zaboura. Es schüre Ängste, erinnere an Plakate rechter Parteien und verzerre die Realität: „Interessant, dass die Frage ob wir es schaffen, nur anhand der Migration von Schwarzen Menschen illustriert wird", tweetet zum Beispiel die Migrationsforscherin Naika Foroutan in Reaktion auf das Cover. Und sie ergänzt, die Nettozuwanderung aus der Ukraine im vergangenen Jahr sei größer gewesen als die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak von 2014 bis 2016 zusammen. Foroutan stützt sich dabei auf Daten des Statistischen Bundesamts.

DER SPIEGEL hat das Bild für sein Cover verändert

Nun ließe sich entgegnen: Ein Bild kann immer nur einen Ausschnitt der Realität zeigen. Und zu dieser Realität gehört eben auch Lampedusa, wo zuletzt Tausende Flüchtende ankamen. „Sagen, was ist" - so lautet das Motto des SPIEGELS. Allerdings: DER SPIEGEL hat das Bild für sein Cover verändert. Und zwar nicht nur, indem er das Bild kräftig gelb eingefärbt hat. Das originale Foto gibt es bei der Bildagentur Getty Images. Es wurde am 17. September aufgenommen und zeigt Flüchtende auf dem Weg zu einer Fähre, die sie aufs italienische Festland bringen soll, um die Insel zu entlasten.

Im Unterschied zum SPIEGEL-Cover sind Anfang und Ende des Flüchtlingstrecks auf dem Originalbild klar erkennbar. Und nicht nur der Zuschnitt ist anders: Das Foto zeigt auch zwei Polizisten, die die Flüchtenden flankieren. DER SPIEGEL hat sie für das Cover wegretuschiert. Medienkritikerin Nadia Zaboura: „Da haben wir diese große Mär von der unkontrollierbaren Migrations-‚Welle', die auf einen zuströmt. Anstatt, dass man das Originalfoto nimmt, wird hier ein Stück Realität entfernt." Denn in Wahrheit würde Einwanderung durchaus organisiert.

Kein Kommentar

Was sagt DER SPIEGEL zu dieser Kritik und zu den anderen Vorwürfen? Auf Zündfunk-Anfrage teilt Pressesprecherin Anja zum Hingst mit, sie müsse ein Interview dazu absagen, denn: „Wir sehen keine Veranlassung, uns zum Cover zu äußern."

Nadia Zaboura versteht Journalismus anders. „Nämlich dass man einen Kanal aufmacht, ein Gesprächsangebot macht. Die komplette Blockade spricht für mich nicht für einen angemessenen Umgang." Auch werfe sie die Frage auf, ob „in der verantwortlichen Redaktion, die dieses Bild gestaltet und freigegeben hat, die Vielfalt und die plurale Gesellschaft zu finden ist, die eigentlich Standard in der deutschen Gesellschaft ist."

Sprachbilder rund um Flucht und Migration

Eine divers zusammengesetzte Redaktion kann sensibler machen beim Zeichnen von Bildern. Es sind dabei nicht nur wortwörtliche Bilder, sondern auch Sprachbilder rund um Flucht und Migration, die Medien nutzen und die negative Emotionen transportieren: „Flüchtlingswelle", „-strom" „-ansturm". Wörter, die nach Wasser oder Krieg klingen. Nicht nach Menschen. Eine Untersuchung der Berichterstattung führender Zeitungen und Nachrichtensendungen zwischen 2016 und 2020 kam außerdem zu dem Schluss: Alle Medien stellten Geflüchtete überwiegend negativ dar. Überproportional oft ging es in den Berichten um Terror, Gewalt- und Sexualverbrechen.

Das hat Geschichte, sagt Nadia Zaboura. Der aktuelle Diskurs in Medien und Politik erinnert sie an die 90er Jahre - die Zeit der rassistischen Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen: „Das Klima war sehr aufgeheizt, angefeuert von der Politik." Medien hätten damals Zitate und Narrative, insbesondere der CDU und CSU, teils wortwörtlich übernommen. „Die BILD-Zeitung befeuerte einen rassistischen Diskurs mit Titeln wie ‚Die Flut steigt - wann sinkt das Boot?' oder auch ‚Fast jede Minute ein neuer Asylant'", erzählt Zaboura. „Hier wird so stark mit dem Mittel der Angst gearbeitet, dass selbstverständlich Emotionen hochkochen."

Wie eine differenzierte Berichterstattung gelingt

Doch wie geht es anders? Wie gelingt eine differenzierte Berichterstattung zu Flucht und Migration, die die Realität so abbildet, wie sie ist? Die also weder dramatisiert noch beschönigt? „Erstens müssen wir viel stärker in den Blick nehmen, was die Fluchtursachen sind. Zweitens: Die Menschen in den Kommunen, die jeden Tag Integration aktiv gestalten, das sind auch diejenigen, die hörbar gemacht werden müssen. Deren Bedarfe, deren Nöte - und auch was das mit fehlender finanzieller Ausstattung der Kommunen zu tun hat. Und drittens empfehle ich, eine eigene Redaktionsrichtlinie zu erstellen, eine rassismus-sensitive Richtlinie, nach der man anhand von ganz einfachen Checkpoints abhaken kann, ob das, was man da gerade produziert in Bild oder Text, tatsächlich angemessen ist", so Kommunikationswissenschaftlerin Nadia Zaboura.

Zum Beispiel: Wir stellen flüchtende Menschen als das dar, was sie sind: Menschen. Dann sähen auch Zeitungscover anders aus.

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